Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
vorhanden gewesen.
Jetzt nun kam Aufseher Göhler infolge seiner Beobachtung meines seelischen Zustandes auf die Idee, mich in sein Bläserkorps aufzunehmen, um zu sehen, ob das vielleicht von guter Wirkung auf mich sei. Er fragte bei der Direktion an und bekam die Erlaubnis. Dann fragte er mich, und ich sagte ganz selbstverständlich auch nicht nein. Ich trat in die Kapelle ein. Es war gerade nur das Althorn frei. Ich hatte noch nie ein Althorn in den Händen gehabt, blies aber schon bald ganz wacker mit. Der Aufseher freute sich darüber. Er freute sich noch mehr, als er erfuhr, daß ich Kompositionslehre getrieben habe und Musikstücke arrangieren könne. Er meldete das sofort dem Katecheten, und dieser nahm mich unter die Kirchensänger auf. Nun war ich also Mitglied sowohl des Bläser- als auch des Kirchenkorps und beschäftigte mich damit, die vorhandenen Musikstücke durchzusehen und neue zu arrangieren. Die Konzerte und Kirchenaufführungen bekamen von jetzt an ein ganz anderes Gepräge. Ich muß erwähnen, daß diese musikalischen Arbeiten nur Nebenarbeiten waren. Ich wurde durch sie keineswegs von dem Arbeitspensum entbunden, welches jeder Gefangene pro Tag zu liefern hat, wenn er vermeiden will, sich Unannehmlichkeiten auszusetzen. Dieses Pensum ist nicht zu hoch gestellt; ein jeder Arbeitswillige kann es liefern. Wer geschickt ist, der liefert es sogar in wenigen Stunden. Darum blieb mir reichlich genug Zeit für meine kompositionelle Beschäftigung übrig, die ich nicht aufgab, auch als ich aus der Visitation der Portefeuillearbeiter versetzt worden war. Es wurde mir nämlich mein inniger Wunsch erfüllt, isoliert zu werden.
Ich hatte gleich bei meiner Einlieferung gebeten, eine Zelle für mich allein zu bekommen; die Erfüllung dieses Wunsches war aber nicht angängig gewesen. Erst nun, da man über mich zu einem psychologisch abgeschlossenen Resultate kam, wurde ich in das Isolierhaus versetzt und unmittelbar neben dem Arbeitsraume des Inspektors desselben einquartiert. Er war ein hochgebildeter, sehr pflichtbewußter und humaner Herr, dessen besonderer Schreiber ich wurde. Das war eine Stelle, die es bis dahin noch nicht gegeben hatte. Ich mache hier auf den psychologisch bedeutungsvollen Umstand aufmerksam, daß ich zur Zeit meiner Einlieferung vollständig unfähig gewesen war, Schreiber zu sein, nun aber für fähig gehalten wurde, eine Schreiberstelle zu bekleiden, welche große geistige Um- und Einsicht erforderte und die höchste Vertrauensstelle war, die es in der ganzen Anstalt gab. Mein Inspektor war nämlich neben seiner Direktion des Isolierhauses noch beruflich schriftstellerisch tätig. Diese seine Tätigkeit bezog sich auf die besondere Statistik unserer Anstalt und auf das Wesen und die Ausgaben des Strafvollzuges überhaupt. Er schrieb die hierauf bezüglichen Berichte und stand mit allen hervorragenden Männern des Strafvollzuges in lebhafter Korrespondenz. Meine Aufgabe war, die statistischen Ziffern zu ermitteln, sie auf ihre Zuverlässigkeit zu untersuchen, sie zusammenzustellen, zu vergleichen und dann die Resultate aus ihnen zu ziehen. Das war an und für sich eine sehr schwere, anstrengende und scheinbar langweilige Beschäftigung mit leblosem Ziffernwerk; aber diese Ziffern zu Gestalten zusammenzusetzen und diesen Gestalten Leben und Seele einzuhauchen, ihnen Sprache zu verleihen, das war im höchsten Grade interessant, und ich darf wohl sagen, daß ich da viel, sehr viel gelernt habe und daß mich diese Arbeiten in stiller, einsamer Zelle in Beziehung auf Menschheitspsychologie viel weiter vorwärts gebracht haben, als ich ohne diese Gefangenschaft jemals gekommen wäre. Daß mir hierzu nur die besten und zuverlässigsten Unterlagen zu Gebote standen, versteht sich ganz von selbst. Es sind mir da ganz eigenartige Lichter aufgegangen. Ich habe da in die tiefsten Tiefen des Menschenlebens geschaut und Dinge gesehen, die andere niemals sehen werden, weil sie keine Augen dafür haben. Ich habe da erkannt, daß Großmutters Märchen die Wahrheit sagt, daß es ein Dschinnistan und ein Ardistan gibt, ein ethisches Hochland und ein ethisches Tiefland, und daß die Hauptbewegung, an der wir alle teilzunehmen haben, nicht von oben nach unten geht, sondern von unten nach oben, empor, empor zur Befreiung von der Sünde, hinauf, hinauf zur Edelmenschlichkeit. Diese Erkenntnis ist mir von größtem Segen gewesen; sie hat auch mich selbst befreit. Ich habe die in mir schreienden Stimmen,
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