Delphi Saemtliche Werke von Karl May Band II (Illustrierte) (German Edition)
hier unten in Ardistan geschehen, im Erdenleid, in der Menschheitsqual, bei der Träberkost des verlorenen Sohnes unserer biblischen Geschichte. Meine Phantasie begann, das, was ich suchte, in Form zu fassen, um es ergreifen und festhalten zu können. Es wohnte und lebte in mir. Aber nicht nur da, sondern auch außerhalb, allüberall, in jedem andern Menschen, auch im Menschengeschlecht, als Großes und Ganzes gedacht. Da entstand in mir meine Marah Durimeh, die große, herrliche Menschheitsseele, der ich die Gestalt meiner geliebten Großmutter gab. Da tauchte zum ersten Male mein Tatellah-Satah in mir auf, jener geheimnisvolle »Bewahrer der großen Medizin«, den meine Leser im dreiunddreißigsten meiner Bände kennen gelernt haben. Und da wurde auch der Gedanke »Winnetou« geboren. Wohlverstanden, nur der Gedanke, nicht aber er selbst, den ich erst später fand. Damals habe ich die psychologischen Werke der Beamtenbibliothek und alle andern, die mir zugängig wurden – fast verschlungen, hätte ich beinahe gesagt; aber das würde nicht wahr sein, denn ich habe sie langsam, Wort für Wort zerlegt und jedes einzelne Wort mit einer Bedachtsamkeit in mir aufgenommen, die höchst wahrscheinlich nicht allzu häufig ist; aber ich habe das wie atemlos und mit einem Hunger, mit einem Eifer getan, als ob mein Leben, meine Seligkeit davon abhänge, mir innerlich klar zu werden. Und als ich dann glaubte, mich auf dem richtigen Wege zu befinden, da griff ich in meine Kinderzeit zurück und holte den alten, kühnen Wunsch hervor, »ein Märchenerzähler zu werden, wie du, Großmutter, bist.« Ich befand mich ja an einem der größten und reichsten Fundorte alles dessen, was da zu erzählen war, im Gefängnisse. Da kondensiert und verdichtet sich alles, was draußen in der Freiheit so leicht und so dünn vorüberfließt, daß man es nicht ergreifen und noch viel weniger betrachten kann. Und da erheben sich die Gegensätze, die draußen sich wie auf ebener Fläche vermischen, so bergeshoch, daß in dieser Vergrößerung Alles offenbar wird, was anderwärts in Heimlichkeit verborgen bleibt. Ich hatte sie vor mir aufgeschlagen, die anspruchsvollen, hochgelehrten Werke über Psychologie, besonders über Kriminalpsychologie. Fast jede Zeile war mir eingeprägt. Sie enthielten die Theorie, ein Konglomerat von Rätseln und Problemen. Die Praxis aber lag rund um mich her, in ebenso klarer wie erschütternder Aufrichtigkeit. Welch ein Unterschied zwischen beiden? Wo war die Wahrheit zu suchen? In den aufgeschlagenen Büchern oder in der aufgeschlagenen Wirklichkeit? In beiden! Die Wissenschaft ist wahr, und das Leben ist wahr. Die Wissenschaft irrt, und das Leben irrt. Ihre beiderseitigen Wege führen über den Irrtum zur Wahrheit: dort müssen sie sich treffen. Wo diese Wahrheit liegt und wie sie lautet, das können wir nur ahnen. Es ist nur einem einzigen Auge vergönnt, sie vorauszusehen, und das ist das Auge des – – Märchens. Darum will ich Märchenerzähler sein, nichts Anderes als Märchenerzähler, ganz so, wie Großmutter es war! Ich brauche nur die Augen zu öffnen, so sehe ich sie aufgespeichert, diese Hunderte und Aberhunderte von fleischgewordenen Gleichnissen und nach Erlösung trachtenden Märchen. In jeder Zelle eins und auf jedem Arbeitsschemel eins. Lauter schlafende Dornröschen, die darauf warten, von der Barmherzigkeit und Liebe wachgeküßt zu werden. Lauter in Fesseln schmachtende Seelen, in alten Schlössern, die in Gefängnisse umgewandelt sind, oder in modernen Riesenbauten, in denen die Humanität von Zelle zu Zelle, von Schemel zu Schemel geht, um aufzuwecken und freizumachen, was des Aufwachens und der Freiheit wert sich zeigt. Ich will zwischen Wissenschaft und Leben vermitteln. Ich will Gleichnisse und Märchen erzählen, in denen tief verborgen die Wahrheit liegt, die man auf andere Weise noch nicht zu erschauen vermag. Ich will Licht schöpfen aus dem Dunkel meines Gefängnislebens. Ich will die Strafe, die mich getroffen hat, in Freiheit für andere verwandeln. Ich will die Strenge des Gesetzes, unter der ich leide, in ein großes Mitleid mit allen denen, die gefallen sind, verkehren, in eine Liebe und Barmherzigkeit, vor der es schließlich kein »Verbrechen« mehr und keine »Verbrecher« gibt, sondern nur Kranke, Kranke, Kranke.
Aber kein Mensch darf ahnen, daß das, was ich erzähle, nur Gleichnisse und nur Märchen sind, denn wüßte man das, so würde ich nie erreichen, was ich zu erreichen
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