Zwischen Pflicht und Sehnsucht
1. KAPITEL
Charles Alden, Viscount Dayle, ließ sich in seinen Lieblingssessel im Salon bei White’s sinken. Es war früh am Morgen, die Bediensteten des Klubs hatten die Markisen noch nicht heruntergelassen, und helles Sonnenlicht flutete durch die deckenhohen Fenster. Neben ihm befanden sich auf einem kleinen Tisch eine Kanne Kaffee, ein Teller mit Teegebäck und ein Stapel Zeitungen. Er schlug die „Times“ auf, biss genussvoll in das erste warme, butterzarte Stück Gebäck und seufzte aus tiefstem Herzen.
Er genoss den Frieden dieses Morgens, während er die erste Zeitung von vorne bis hinten durchlas. Unglücklicherweise war Frieden im Frühling 1817 in ganz England ein seltener Luxus, sogar für einen Viscount. Charles wurde gewahr, dass etwas nicht stimmte, als er aufblickte, die „Times“ beiseitelegte und nach der „Edinburgh Review“ griff.
Um ihn herum war es leer geworden. Der Salon, normalerweise immer voll, war entvölkert bis auf wenige Herren, die flüsternd in Gruppen beisammenstanden und größtmöglichen Abstand von ihm hielten. Einer der Männer bemerkte, dass Charles ihn ansah, bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick und stolzierte, nach seinem Hut verlangend, hinaus. Eine ungute Vorahnung beschlich Charles. Er sah auf und blickte in das mitfühlende Gesicht eines Dieners, der ihm frischen Kaffee brachte.
„Und, Bartlett?“, fragte er ruhig. „Ich sehe Ihnen an, dass Sie besser informiert sind als ich. Erzählen Sie’s mir.“
Bartlett räusperte sich. „Ich war so frei, die heutige Ausgabe des ‚Oracle‘ zu Ihrer üblichen Lektüre hinzuzufügen, Mylord. Vielleicht möchten Sie einen Blick in den redaktionellen Teil werfen?“
„Der ‚Oracle‘?“ Das war wenig mehr als ein Skandalblatt. „Vielen Dank, Bartlett.“
Beklommen griff Charles nach der Zeitung und blätterte ein paar Seiten um, bis er auf das Thema stieß, das er suchte.
Liebling der Torys oder Wolf im Schafspelz?
Man sagt, ein geläuterter Frauenheld gäbe den besten Ehemann ab – aber was für einen Politiker gibt er ab?
Lord D. ist genau so ein Mann, ein Windhund erster Güte, jetzt bekehrt zum verantwortungsvollen englischen Peer. Wir fragen uns, ob er bloß zum Schein das Revier gewechselt hat, um nach frischer Beute zu suchen.
Lord D. wurde in letzter Zeit häufig in Gesellschaft der berüchtigten Lady A. gesehen. Dies ist vielleicht nicht weiter überraschend, wenn man seine frühere Vorliebe für Damen von zweifelhaftem Charakter bedenkt – und ihre bekannte Vorliebe für junge aufstrebende Mitglieder der Partei ihres Gatten. Was allerdings überrascht, ist die Tatsache, dass ein Mann, der für seinen Scharfsinn und seine Gewandtheit bekannt ist, sich in einer solchen Situation so plump anstellen konnte. Nur durch groben Dilettantismus seitens des Übeltäters konnte es gestern so weit kommen, dass Lord A., als er unerwartet nach Hause zurückkehrte, auf einen Gentleman traf, der das Haus überstürzt durch das Fenster von Lady A.s Schlafgemach verließ.
Berichten zufolge wurde die Dame in angemessener Weise bestraft und aufs Land verbannt. Doch was ist mit dem Herrn?
Man kann es nicht leugnen: Lord D. ist ein Mann mit vielen Talenten. Tatsächlich gibt es Gerüchte, dass er bald ein Spitzenamt übernehmen soll. Wir vom „Oracle“ fragen uns allerdings, ob die Torys diese Idee nicht noch einmal überdenken sollten. Sicherlich gibt es doch einen Kandidaten, der einen untadeligeren Charakter aufweisen kann. Denn wenn die Torys Lord D. nicht einmal ihre Frauen anvertrauen können, warum sollten sie ihm dann die Nation anvertrauen?
Eine Minute lang war Charles erstarrt vor Ärger. Verflucht, verdammt, verteufelt! Monate harter Arbeit. Zahllose aufreibende Stunden, die er damit verbracht hatte, eine sorgfältige Fassade zu konstruieren. Alles in einem einzigen Augenblick mit einem boshaften Federstreich zerstört.
Normale, alltägliche Geräusche drangen aus den Nachbarräumen herein: das Rascheln frisch gebügelter Zeitungen, das leise Klirren von Porzellan, das gedämpfte Murmeln von Männern, deren Leben nicht gerade eben völlig aus den Fugen geraten war. Charles saß reglos da und versuchte, die Katastrophe zu begreifen, die da über ihn hereingebrochen war.
Ruhig und ohne sich etwas anmerken zu lassen, trank er seinen Kaffee aus. Er würde niemandem den Eindruck vermitteln, er schäme sich für irgendetwas. Als er fertig war, stand er auf, klemmte sich den „Oracle“ unter den
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