Delphi Saemtliche Werke von Theodor Fontane (Illustrierte) (German Edition)
gleichgültig; ihr seid Springer.«
Renate lachte. »Ja, das sind wir; aber wenn wir zu viel springen, so springt ihr zu wenig. Eure Gründlichkeit ist beleidigend. Immer glaubt ihr, daß wir in der Weltgeschichte weit zurück seien, und wir wissen doch auch, daß der Kaiser in Paris angekommen ist. Oh, ich könnte Bulletins von Hohen-Vietz aus datieren. Aber lassen wir unsere Fehde, Lewin. Was ist es mit den roten Scheiben im Schloßhof von Berlin? In der Zeitung war eine Andeutung; Kathinka schrieb ausführlicher davon.«
»Was schrieb sie?«
»Wie du nur bist. Nun kümmert dich wieder, was Kathinka schrieb. Daß ich so töricht war, den Namen zu nennen.«
Lewin suchte eine flüchtige Verlegenheit zu verbergen. »Du irrst, ich schweife nicht ab; mich hat das Phänomen lebhaft beschäftigt. Es kam dreimal; am dritten Tage habe ich es gesehen.«
»Und was war es?«
»An allen drei Tagen, etwa eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang, erglühten plötzlich die oberen Fenster des alten Schloßhofes. Die Wachen meldeten es. Da die Sonne längst unter war, so dachte man an Feuer. Aber es fand sich nichts. Auf dem neuen Schloßhof blieben die Fenster dunkel. Die Leute sagen, es bedeute Krieg.«
»Ein leichtes Prophezeien«, bemerkte Tante Schorlemmer ruhig. »Wir hatten Krieg in diesem Jahre und werden ihn mit in das neue hinübernehmen.«
»Ich glaube«, fuhr Lewin fort, »der ganze Vorgang wäre schnell vergessen worden, wenn nicht eines unserer Blätter, das euch nicht zu Händen kommt, am zweitfolgenden Tage schon eine Geschichte gebracht hätte, die bei allem Dunklen ersichtlich darauf berechnet war, der Erscheinung im Schloß eine tiefere Bedeutung zu geben, so etwas wie Zeichen und Wunder.«
»O erzähle!«
»Ja. Aber du darfst nicht ungeduldig werden.«
»Bist du empfindlich?«
»Wohlan denn. Es ist eine Geschichte aus dem Schwedischen. Die Überschrift, die das Blatt ihr gab, war: ›Karl XI. und die Erscheinung im Reichssaale zu Stockholm‹. Ich bürge nicht dafür, daß ich alles genauso wiedergebe, wie’s in dem Blatte stand, aber in den Hauptstücken bin ich meiner Sache gewiß. Was man gern hat, behält man. ›Gedächtnis ist Liebe‹, sagte Tubal noch gestern, und selbst Kathinka stimmte bei.«
Bei dem Namen Tubal kam das Erröten an Renate. Lewin aber, als ob er es nicht bemerkt habe, fuhr fort: »Karl XI. war krank. Er lag schlaflos zu später Stunde in seinem Zimmer und sah nach der anderen Seite des Schloßhofes hinüber, auf die Fenster des Reichssaales. Bei ihm war niemand als der Reichsdrost Bjelke. Da schien es dem König, daß die Fenster des Reichssaales zu glühen anfingen, und darauf hindeutend, fragte er den Reichsdrosten: ›Was ist das für ein Schein?‹ Der Reichsdrost antwortete: ›Es ist der Schein des Mondes, der gegen die Fenster glitzert.‹ In demselben Augenblick trat der Reichsrat Oxenstierna herein, um sich nach dem Befinden des Königs zu erkundigen, und der König, wieder auf die glühenden Scheiben deutend, fragte den Reichsrat: ›Was ist das für ein Schein? Ich glaube, das ist Feuer.‹ Auch der Reichsrat antwortete: ›Nein, gottlob, das ist es nicht; es ist der Schein des Mondes, der gegen die Fenster glitzert.‹ Die Unruhe des Königs wuchs aber, und er sagte zuletzt: ›Gute Herren, da geht es nicht richtig zu; ich will hingehen und erfahren, was es sein kann.‹ Sie gingen darauf einen Korridor entlang, der an den Zimmern Gustav Erichsons vorüberführte, bis daß sie vor der großen Türe des Reichssaales standen. Der König forderte den Reichsdrosten auf, die Tür zu öffnen, und als dieser bat, in dieser Nacht die Tür geschlossen zu lassen, nahm der König selbst den Schlüssel und öffnete. Als er den Fuß auf die Schwelle setzte, trat er hastig zurück und sagte: ›Gute Herren, wollt ihr mir folgen, so werden wir sehen, wie es sich hier verhält; vielleicht, daß der gnädige Gott uns etwas offenbaren will.‹ Sie antworteten: ›Ja.‹«
Hier wurde Lewin unterbrochen. Jeetze trat ein, um eine Schale mit Obst auf den Tisch zu stellen, Erdbeeräpfel und Gravensteiner, die in Hohen-Vietz vorzüglich gediehen. Tante Schorlemmer benutzte die Unterbrechung, um einige wirtschaftliche Ordres zu geben, Renate aber bemerkte: »Ich vermisse die Beziehungen; aber freilich, je geheimnisvoller, desto anregender für die Phantasie.«
Lewin nickte zustimmend. »Dieser Eindruck wird sich bei dir steigern.« Dann fuhr er fort: »Als König Karl und die beiden
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