1149 - Begraben, aber nicht vergessen
Kuzow wartete auf die Toten!
Wie oft in den letzten Nächten saß er am Ufer des Sees und schaute auf die dunkle Fläche, die immer wieder die Wellen heranschaufelten, die auf einem relativ schmalen Strandstreifen ausliefen.
Es war für Kuzow der beste Platz. An anderen Stellen war das Ufer einfach zu hoch, und in der nördlichen Seeregion bildete es beinahe schon so etwas wie eine Steilküste.
Wieder hatte sich eine dieser dunklen Winternächte über das Land gelegt. Es war kalt, auch zugig, aber nicht mehr unbedingt so eisig. Hier im Süden war die Luft manchmal mit den Boten des Vorfrühlings gefüllt, wenn der Südwind etwas von seiner Reise aus den Steppen und Wüsten mitbrachte.
Das Wasser schleuderte immer wieder Wellen in die Höhe. Auf den Kämmen tanzte die Gischt wie unruhige Gespenster. Da die Luft über dem Himmel klar war, konnte Kuzow auch die Sterne sehen, die sich funkelnd auf dem Firmament verteilten. Sie waren der Gruß aus sehr fernen Welten, und immer, wenn er in die Höhe schaute, überkam ihn eine große Sehnsucht. Sein Traum war es, irgendwann einmal dort oben zu verschwinden und nie aufzutauchen.
Stattdessen hockte er hier am Ufer und wartete. Als Sitzplatz diente ihm eine Holzkiste, auf die er ein Kissen gelegt hatte. Er war eine einsame Gestalt mit Fellmütze, eingehüllt in den alten Fellmantel, der ihm fast bis zu den Schuhen reichte. Wenn der Wind zu scharf wurde, band er sich den Schal vor den Mund.
Kuzow wartete weiter. Der See war ein Phänomen. Nicht allein deshalb, weil er nie richtig zufror in seinem Innern gab es wärmere Strömungen - nein, es kam noch etwas hinzu. Die Strömung sorgte auch dafür, dass die Leichen ans Ufer geschwemmt wurden. Und zwar immer nur an dieser Stelle, an der Kuzow wartete. Er glaubte nicht an einen Zufall, aber er fragte sich, warum das Gewässer die Toten ausspie. Der See musste sie aus den dunklen Tiefen geholt haben, wo sie vielleicht über Jahre hinweg ihr Dasein gefristet hatten.
Kuzow wusste nicht genau, wer sie waren. Er sah seine Aufgabe darin, sie wegzuschaffen, denn er fürchtete sich davor, dass die Leichen zurückschlagen könnten.
Er glaubte, dass das Schicksal ihn auserwählt hatte. Er lebte allein am See. Um ihn kümmerte sich kaum jemand. Er war jetzt 60 Jahre alt, und in seinem Leben hatte sich kaum etwas verändert.
Es war in den letzten Jahren viel geschehen in dem riesigen Russland. Nicht alle Menschen hatten von den Veränderungen etwas mitbekommen. Zu ihnen gehörte Kuzow. Er kannte zwar die neuen Namen aus den Zeitungen und aus dem Radio, doch anfangen konnte er damit kaum etwas. Hier am großen See lief das Leben ab wie vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten. Nur waren die Fische weniger geworden, ebenso wie die Wassermenge. Große Teile des Sees waren schon versandet. Oft genug brachten die Fischer einen Fang mit, den sie wieder wegwerfen konnten. Da hatten irgendwelche Gifte die Tiere angefressen.
Kuzow machte sich seine Gedanken. Weniger um die Fische, als um die Leichen. Dass sie aus der Tiefe des Gewässers in die Höhe und später ans Ufer gespült wurden, lag auf der Hand, aber wie sie in den See gekommen waren, wusste er nicht. Sie waren auch nicht richtig verwest, denn sie zeigten sich nur auf eine schlimme Art und Weise verändert, für die der Russe keine Erklärung fand. Er wusste nicht einmal, ob sie auch richtig tot waren. Ein paar Mal hatte er das Gefühl gehabt, dass sie noch lebten, aber darüber wollte er nicht nachdenken. Was er tat, hielt er für richtig, und es sollte ihn niemand dabei stören. Er war davon überzeugt, der Menschheit einen Gefallen zu tun.
Trotz der Kälte hatte er darauf verzichtet, ein Feuer zu machen. Er wollte allein im Schutz der Dunkelheit bleiben. Die Flammen am Ufer hätte man zu weit sehen können, und Aufmerksamkeit wollte er keine erregen.
Die Tageswende war längst vorbei. Kuzow brauchte nicht einmal eine Uhr, um das zu wissen. So etwas hatte er einfach im Gefühl. Es gab keine genauen Zeiten, wann die Leichen angeschwemmt wurden. Er ging einfach nur davon aus, dass sie auch kamen.
Ein Freund, der in Moskau gewesen war, hatte ihm dünne Zigarren aus dem Westen mitgebracht.
Gleich drei Kisten davon. Jede Nacht rauchte Kuzow zwei der Zigarren. Eine hatte er schon genossen, nun holte er die zweite hervor. Mit der Flamme eines alten Sturmfeuerzeugs zündete er sie an.
Das flackernde Licht huschte dabei über seine rissigen, von der Arbeit, gezeichneten Hände hinweg, die
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