Demian
eine Woche lang. Ich wagte gar nicht, daran zu glauben, und lag innerlich auf der Lauer, ob er nicht plötzlich, eben wenn man ihn gar nimmer erwartete, doch wieder dastehen würde. Aber er war und blieb fort! Mißtrauisch gegen die neue Freiheit, glaubte ich noch immer nicht recht daran. Bis ich endlich einmal dem Franz Kromer begegnete. Er kam die Seilergasse herab, gerade mir entgegen. Als er mich sah, zuckte er zusammen, verzog das Gesicht zu einerwüsten Grimasse und kehrte ohne weiteres um, um mir nicht begegnen zu müssen.
Das war für mich ein unerhörter Augenblick! Mein Feind lief vor mir davon! Mein Satan hatte Angst vor mir! Mir fuhr die Freude und Überraschung durch und durch.
In diesen Tagen zeigte sich Demian einmal wieder. Er wartete auf mich vor der Schule.
»Grüß Gott«, sagte ich.
»Guten Morgen, Sinclair. Ich wollte nur einmal hören, wie dir’s geht. Der Kromer läßt dich doch jetzt in Ruhe, nicht?«
»Hast du das gemacht? Aber wie denn? Wie denn? Ich begreife es gar nicht. Er ist ganz ausgeblieben.«
»Das ist gut. Wenn er je einmal wiederkommen sollte – ich denke, er tut es nicht, aber er ist ja ein frecher Kerl –, dann sage ihm bloß, er möge an den Demian denken.«
»Aber wie hängt das zusammen? Hast du Händel mit ihm angefangen und ihn verhauen?«
»Nein, das tue ich nicht so gern. Ich habe bloß mit ihm gesprochen, so wie mit dir auch, und habe ihm dabei klarmachen können, daß es sein eigener Vorteil ist, wenn er dich in Ruhe läßt.«
»Oh, du wirst ihm doch kein Geld gegeben haben?«
»Nein, mein Junge. Diesen Weg hattest ja du schon probiert.« Er machte sich los, so sehr ich ihn auszufragen versuchte, und ich blieb mit dem alten beklommenen Gefühl gegen ihn zurück, das aus Dankbarkeit und Scheu, aus Bewunderung und Angst, aus Zuneigung und innerem Widerstreben seltsam gemischt war.
Ich nahm mir vor, ihn bald wiederzusehen, und dann wollte ich mehr mit ihm über das alles reden, auch noch über die Kain-Sache.
Es kam nicht dazu.
Dankbarkeit ist überhaupt keine Tugend, an die ich Glauben habe, und sie von einem Kinde zu verlangen, schiene mir falsch. So wundere ich mich über meine eigene völlige Undankbarkeit nicht eben sehr, die ich gegen Max Demian bewies. Ich glaube heute mit Bestimmtheit, daß ich fürs Leben krank und verdorben worden wäre, wenn er mich nicht aus den Klauen Kromers befreit hätte. Diese Befreiung fühlte ich auch damals schon alsdas größte Erlebnis meines jungen Lebens – aber den Befreier selbst ließ ich links liegen, sobald er das Wunder vollführt hatte.
Merkwürdig ist die Undankbarkeit, wie gesagt, mir nicht. Sonderbar ist mir einzig der Mangel an Neugierde, den ich bewies. Wie war es möglich, daß ich einen einzigen Tag ruhig weiterleben konnte, ohne den Geheimnissen näher zu kommen, mit denen mich Demian in Berührung gebracht hatte? Wie konnte ich die Begierde zurückhalten, mehr über Kain zu hören, mehr über Kromer, mehr über das Gedankenlesen?
Es ist kaum begreiflich, und ist doch so. Ich sah mich plötzlich aus dämonischen Netzen entwirrt, sah wieder die Welt hell und freudig vor mir liegen, unterlag nicht mehr Angstanfällen und würgendem Herzklopfen. Der Bann war gebrochen, ich war nicht mehr ein gepeinigter Verdammter, ich war wieder ein Schulknabe wie immer. Meine Natur suchte so rasch wie möglich wieder in Gleichgewicht und Ruhe zu kommen, und so gab sie sich vor allem Mühe, das viele Häßliche und Bedrohende von sich wegzurücken, es zu vergessen. Wunderbar schnell entglitt die ganze lange Geschichte meiner Schuld und Verängstigung meinem Gedächtnis, ohne scheinbar irgendwelche Narben und Eindrücke hinterlassen zu haben.
Daß ich hingegen meinen Helfer und Retter ebenso rasch zu vergessen suchte, begreife ich heute auch. Aus dem Jammertal meiner Verdammung, aus der furchtbaren Sklaverei bei Kromer floh ich mit allen Trieben und Kräften meiner geschädigten Seele dahin zurück, wo ich früher glücklich und zufrieden gewesen war: in das verlorene Paradies, das sich wieder öffnete, in die helle Vater- und Mutterwelt, zu den Schwestern, zum Duft der Reinheit, zur Gottgefälligkeit Abels.
Schon am Tage nach meinem kurzen Gespräch mit Demian, als ich von meiner wiedergewonnenen Freiheit endlich völlig überzeugt war und keine Rückfälle mehr fürchtete, tat ich das, was ich so oft und sehnlich mir gewünscht hatte – ich beichtete. Ich ging zu meiner Mutter, ich zeigte ihr das Sparbüchslein,
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