Denen man nicht vergibt
konnte jeden Moment den Weg zum schmuddeligen Fußboden antreten. Dane hielt es für wahrscheinlicher, dass der Putzmann geflissentlich die Finger davon ließ. Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich hab im Flugzeug gegessen. Aber danke, Inspektor.«
Als Dane seinen Bruder durch das Sichtfenster des kleinen Identifizierungsraums im Leichenschauhaus erblickte, traf ihn die Realität wie ein Keulenschlag. Dr. Boyd, ein großer, weißhaariger, herrischer Mann mit einer Stimme, die jeden Sünder erzittern ließ, hatte sie durch die Sicherheitsschleuse geführt, dann den kurzen Gang entlang zu diesem Raum, wo er die Vorhänge vor dem Sichtfenster aufzog. Da lag Michael, bis zum Hals mit einem weißen Laken bedeckt. Nur sein Kopf schaute heraus. Dane durchzuckte ein solch scharfer Schmerz, dass er beinahe gestöhnt hätte. Er spürte Delions Hand auf seiner Schulter. Dann sah er den roten Punkt auf Michaels Stirn; er sah so unwirklich aus, als hätte ihn jemand dort aufgemalt, nicht mehr, bloß ein wenig Schminke, wie eine Art Modestatement oder irgendein Tick. Am liebsten hätte er Dr. Boyd gefragt, warum man den Fleck nicht weggewischt hatte.
Mit sanfter Stimme sagte Dr. Boyd: »Er war sofort tot, Agent Carver. Er hat nicht mal mehr die Kugel gespürt, da bin ich sicher.«
Dane nickte.
»Die Autopsie wurde bereits durchgeführt, Fingerabdrücke, DNA-Proben und so weiter.«
»Ja, ich weiß.«
Delion trat mit vor der Brust verschränkten Armen einen Schritt zurück und musterte Agent Dane Carver. Er wusste, wie ein Mensch aussieht, der unter Schock steht. Und er erkannte auch tiefsten Schmerz. Beides sah er im Gesicht dieses Mannes. Als Dane schließlich nickte, sagte Delion: »Chief Kreider möchte uns jetzt sprechen.«
Chief Dexter Kreiders Sekretärin führte sie ins Chefbüro. Es war kein allzu großer Raum, aber die Aussicht war umwerfend. Durch ein Fenster, das die ganze Länge einer Wand einnahm, hatte man einen atemberaubenden Blick über die Bucht und hinaus auf die Bay Bridge. Ins Auge fielen auch ein riesiges Yahoo-Plakat sowie eine Cola-Light-Werbewand. Im Zimmer standen ein mächtiger Schreibtisch und zwei große Vitrinen voller Schnickschnack. Dane musste unwillkürlich lächeln, als er das sah. In fast jedem Büro von einem der hohen Tiere, sei es nun bei der Polizei oder beim FBI, das er je gesehen hatte, stand mindestens eine solche Vitrine. Nun, der Chief schien überdies ein wenig schrullig zu sein, was ihn in Danes Augen nur sympathischer machte: In einer Ecke stand ein bunt bemaltes hölzernes Karussellpferd. Ein zweckmäßiges und schrulliges Büro. Nette Kombination.
Aber eines wusste Dane: Chief Kreider selbst konnte sich auf keinen Fall auf dieses Karussellpferd setzen. Er war ein Riese von einem Mann, fast zwei Meter groß und gut zweihundertsechzig Pfund schwer, dabei jedoch keineswegs dick, nicht mal um die Gürtellinie. Er hatte einen militärisch kurzen Haarschnitt, grau meliert und dicht wie bei einem Dachs. Dazu trug er eine Pilotenbrille. Dane schätzte ihn auf Mitte fünfzig.
Er lächelte nicht zur Begrüßung. »Carver? Dane Carver? Spezialagent?«
Dane nickte knapp und schüttelte die dargebotene Pranke.
»Freut mich, Sie kennen zu lernen. Kommen Sie, setzen Sie sich. Tina, bringen Sie uns Kaffee.«
Delion und Dane nahmen an dem kleinen runden Tisch in der Mitte des Büros Platz. Der Chief selbst setzte sich nicht, sondern stand hoch aufgetürmt vor ihnen, die Arme über der fassähnlichen Brust verschränkt. Dann begann er, unruhig auf und ab zu laufen, bis Tina, eine ältere Dame, die dieselbe militärische Präzision an den Tag legte wie ihr Chef, den Kaffee eingeschenkt, dem Boss zugenickt hatte und wieder verschwunden war. Endlich sagte er: »Hab eine E-Mail von Dillon Savich, Ihrem Boss drüben in Disneyland East, gekriegt.«
»Ein guter Mann«, sagte Delion.
Kreider meinte: »Ja, typisch für ihn. Savich schreibt mir, Sie wären ein ziemlich schlaues Kerlchen und hätten ’ne unschlagbare Nase. Er bittet mich, Sie in den Fall mit einzubeziehen. Was halten Sie davon, Delion? Möchten Sie mit den FBI-Fritzen gemeinsame Sache machen?«
»Nein«, wehrte Delion ab. »Das ist mein Fall. Aber Carver kann mitmachen, wenn er will. Vorausgesetzt, er weiß, dass ich das Sagen habe.«
»Ich will Ihnen den Fall nicht wegnehmen«, beschwichtigte Dane, »das liegt mir fern. Alles, was ich will, ist helfen, den Mörder meines Bruders zu finden.«
Kreider sagte: »Also gut.
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