Der Adler ist entkommen
»Detective Chief Superintendent Fox. Eine unselige Geschichte, Sir.«
»Ja«, sagte ich wieder.
»Diese junge Dame, Ruth Cohen, war sie eine Freundin?«
»Nein«, entgegnete ich. »Ich habe sie heute abend zum erstenmal gesehen.«
»Ihr Name und Ihre Adresse fanden sich in ihrer Handtasche.« Ehe ich etwas erwidern konnte, fuhr er fort. »Wie dem auch sei, bringen wir es lieber hinter uns. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«
Der Raum, in den man mich führte, war weiß gekachelt und von grellem Neonlicht erhellt. Ich sah eine Reihe Operationstische. Die Leiche lag auf dem letzten und war mit einem weißen Gummituch bedeckt. Ruth Cohen sah sehr friedlich aus. Sie hatte die Augen geschlossen, aber ihr Kopf steckte in einer blutverschmierten Gummikappe.
»Können Sie die Verstorbene zweifelsfrei als Ruth Cohen identifizieren, Sir?« fragte der Polizist.
Ich nickte. »Ja, das ist sie«, und er deckte wieder das Tuch über sie.
Als ich mich umdrehte, saß Fox auf dem Tischende in der Ecke und zündete sich gerade wieder eine Zigarette an. »Wie ich schon sagte, wir fanden Ihren Namen in ihrer Handtasche.«
In diesem Augenblick kam es mir vor, als hätte etwas in meinem Kopf geklickt, und ich kehrte zurück in die Wirklichkeit. Ein Unfall mit Fahrerflucht - ein schweres Vergehen, aber seit wann kümmerte sich ein Detective Chief Superintendent um so etwas? Und mußte einem dieser Fox mit seinem finsteren Gesicht und den dunklen, wachsamen Augen nicht seltsam vorkommen? Das war kein normaler Polizist. Ich witterte an ihm den Special Branch, die Sonderabteilung.
Daß es sich immer auszahlt, so nah wie möglich an der Wahrheit zu bleiben, hatte ich schon vor langer Zeit herausgefunden. »Sie erzählte mir, sie käme aus Boston und arbeite an der Londoner Universität, wo sie für ein Buch recherchierte.«
»Über was, Sir?«
Was meinen Verdacht sofort bestätigte. »Es hatte irgend etwas mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun, Superintendent, zufälligerweise ein Thema, über das auch ich schon geschrieben habe.«
»Ich verstehe, sie suchte Hilfe, wollte einen Rat oder so etwas, ja?«
Meine Antwort war eine krasse Lüge. »Überhaupt nicht. So etwas hatte sie nicht nötig. Sie hatte, glaube ich, einen Doktor. Nein, Superintendent, ich habe ein ziemlich erfolgreiches Buch geschrieben, das im Zweiten Weltkrieg spielt. Sie wollte mich einfach nur kennenlernen. Wenn ich es richtig verstanden habe, wollte sie morgen in die Staaten zurückfliegen.«
Der Inhalt ihrer Handtasche und des Aktenkoffers lagen neben ihm auf dem Tisch, das Ticket der PanAm war nicht zu übersehen. Er griff danach. »So sieht es wohl aus.«
»Kann ich jetzt gehen?«
»Natürlich. Der Beamte bringt Sie nach Hause.«
Wir gingen hinaus in die Halle und blieben an der Tür stehen. Er hustete, während er sich eine weitere Zigarette anzündete. »Verdammter Regen. Ich denke, der Fahrer des Wagens ist ins Schleudern geraten. Es war sicherlich ein Unfall, aber er hätte nicht wegfahren dürfen. Das geht doch nicht, oder?«
»Gute Nacht, Superintendent«, war meine Antwort. Ich ging die Treppe hinunter zum Streifenwagen.
Ich hatte das Licht in der Diele brennen lassen. Ohne meinen Mantel auszuziehen ging ich in die Küche, setzte den Wasserkessel auf und kehrte erst dann zurück ins Wohnzimmer. Dort schüttete ich den letzten Tropfen Bushmills, den ich noch fand, in mein Glas und drehte mich zum Feuer um. In diesem Moment entdeckte ich, daß der Umschlag mit dem Schnellhefter, den ich auf dem Rauchtisch liegengelassen hatte, verschwunden war. Einen aufgeregten Augenblick lang glaubte ich, einem Irrtum zu unterliegen. Vielleicht hatte ich ihn
woanders deponiert. Doch das war natürlich Unsinn.
Ich stellte mein Glas ab, nahm mir eine Zigarette und dachte nach. Dieser mysteriöse Fox - ich war mir jetzt völlig sicher, daß er zur Spezialabteilung gehörte -, dann die arme junge Frau im Leichenschauhaus, und ich erinnerte mich an mein unbehagliches Gefühl, als sie mir erzählte, wie sie die Akte wieder ins Archiv zurückgebracht hatte. Ich stellte mir vor, wie sie über den Gehsteig eilte und im Regen die Straße hinter dem Britischen Museum überquerte. Und dann sah ich den Wagen vor mir. Eine regnerische Nacht und ein schleuderndes Auto, so wie Fox es dargestellt hatte. Es hätte durchaus ein Unfall sein können, aber ich wußte, daß das nicht sehr wahrscheinlich
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