Der Adler ist entkommen
Mein Agent hatte sie mir von einem Cousin besorgt, der für ein halbes Jahr nach New York gegangen war. Sie war altmodisch und gemütlich und gefiel mir sehr gut. Ich stand kurz vor Beendigung eines neuen Romans und verbrachte die meisten Tage im Lesesaal des Britischen Museums.
An diesem Novemberabend, jenem Abend, an dem alles begann, regnete es heftig. Kurz nach sechs Uhr ging ich durch das gußeiserne Tor und folgte dem Weg durch den Wald gotischer Denkmäler und Grabsteine. Trotz des Regenschirms waren die Schultern meines Trenchcoats durchnäßt, was mir aber nichts ausmachte. Ich hatte schon immer eine Vorliebe für den Regen gehabt, für die Stadt bei Nacht, für nasse Straßen, die sich in winterlicher Dunkelheit verlieren, für das seltsame Gefühl der Freiheit, das damit einhergeht. Und ich war an diesem Tag mit meiner Arbeit sehr gut vorangekommen, und das Ende schien nun endgültig in Sicht.
Ich war dem Todesengel nun näher gekommen. Er lag im Halbschatten des Dämmerlichts, das aus der Kirche fiel. Zwei Marmorfiguren hielten an den Bronzetüren des Mausoleums Wache. Alles war wie immer, nur daß ich in dieser Nacht hätte schwören können, daß da noch eine Gestalt war und daß sie aus der Dunkelheit auf mich zukam.
Für einen kurzen Moment verspürte ich ehrliche Angst. Doch dann, als die Gestalt ins Licht trat, erkannte ich eine junge Frau, ziemlich klein und mit einem schwarzen Hut und einem durchnäßten Regenmantel bekleidet. In einer Hand trug sie einen Aktenkoffer. Ihr Gesicht war blaß, die Augen waren dunkel und wirkten irgendwie ängstlich.
»Mr. Higgins? Sie sind doch Mr. Higgins, oder?«
Sie war Amerikanerin, soviel war herauszuhören. Ich atmete tief durch, um meine Nerven zu beruhigen. »Ja, der bin ich. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich muß mit Ihnen sprechen, Mr. Higgins. Können wir irgendwohin gehen?«
Ich zögerte, hatte aus allen erdenklichen Gründen Hemmungen, diese Angelegenheit weiterzuverfolgen, aber etwas an dieser Frau war vollkommen ungewöhnlich. Etwas, dem ich nicht widerstehen konnte.
»Meine Wohnung liegt gleich über den Platz«, erklärte ich.
»Ich weiß«, erwiderte sie. Und als ich noch immer zögerte, fügte sie hinzu: »Sie werden es nicht bereuen, glauben Sie mir. Ich habe für Sie Informationen von lebenswichtiger Bedeutung.«
»Worüber?« wollte ich wissen.
»Über das, was wirklich in Studley Constable passiert ist. Und hinterher. Oh, über eine ganze Menge Dinge, von denen Sie nichts ahnen.«
Das genügte. Ich griff nach ihrem Arm. »In Ordnung. Sehen wir zu, daß wir aus dem Regen kommen, ehe Sie sich noch den Tod holen, und dann können Sie mir erzählen, was das eigentlich alles soll.«
Die Inneneinrichtung des Hauses hatte sich in den letzten Jahren nur wenig verändert, ganz gewiß aber um keinen Deut meine Wohnung, deren Besitzer am spätviktorianischen Dekor festgehalten hatte, an wuchtigen Mahagonimöbeln, roten Samtvorhängen am Erkerfenster und einer Art chinesischer Tapete in Gold und Grün und mit einem dichten Vogelmuster. Abgesehen von den Radiatoren der Zentralheizung bestand die einzige weitere Konzession an die moderne Lebensart in einem Gasfeuer, das den Eindruck vortäuschte, als würden Holzscheite in einem Stahlkorb lebhaft brennen.
»Gemütlich«, sagte sie und drehte sich zu mir um. Sie war kleiner, als ich angenommen hatte. Verlegen streckte sie mir die rechte Hand entgegen, während sie mit der anderen noch immer ihren Aktenkoffer krampfhaft festhielt. »Cohen«, stellte sie sich vor. »Ruth Cohen.«
Ich nickte. »Geben Sie mir erst mal Ihren Mantel, damit ich ihn vor die Heizung hängen kann.«
»Vielen Dank.« Sie nestelte mit der freien Hand an ihrem Gürtel herum. Ich lachte und nahm ihr den Aktenkoffer ab.
»Nun geben Sie schon her.« Während ich ihn auf den Tisch legte, sah ich, daß ihre Initialen in den schwarzen Lederver-. Schluß eingeprägt waren. Und dahinter war noch ein Ph. D. zu lesen.
»Sie haben einen Doktor?« fragte ich.
Sie deutete ein Lächeln an, während sie sich aus dem Mantel schälte. »Harvard, Zeitgeschichte.«
»Das ist interessant«, fuhr ich fort. »Ich koche uns Tee, oder ist Ihnen Kaffee lieber?«
Sie lächelte wieder. »Ich habe ein Forschungssemester an der London University hinter mir, Mr. Higgins. Seitdem ziehe ich
Tee entschieden vor.«
Ich ging in die Küche, setzte den Kessel auf
Weitere Kostenlose Bücher