Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte
»Hallo? Mark?!«
»Ich binâs, Sera«, sagte eine kurzatmige Frauenstimme. »Hast du keine Mailbox mehr? Ich versuche schon seit Stunden, dich zu erreichen.«
»Ich war mit der falschen Tasche unterwegs«, antwortete Emma. »Meine Mailbox ist voll, und ich weià nicht, wie man sie leer kriegt.«
Das Klicken eines Feuerzeugverschlusses verriet, dass Sera sich eine Zigarette anzündete. Sie sog den Rauch ein und stieà ihn mit einem kurzen Zischen wieder aus. Emma konnte sie vor sich sehen: am Bühnenausgang, die Haut noch gerötet von der Probe, das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt. Wie sie gleichzeitig rauchte, den anderen Tänzerinnen zunickte und Schal, Mütze und Mantel anlegte, ohne das Telefon fallen zu lassen. Jetzt fragte sie: »Mark ist nicht da? Er hat dich doch nicht etwa versetzt?«
»Vielleicht ist ihm was passiert«, sagte Emma zaghaft.
»Was soll ihm denn passiert sein?«
»Ich weià nicht. Vielleicht hatte er einen Unfall. Viel leicht liegt er schwer verletzt in seinem â¦Â« Sie hielt inne, weil sie nicht genau wusste, wo der Mann, der nicht ohne sie leben konnte, schwer verletzt liegen sollte. AuÃerdem wartete sie darauf, dass Sera ihr widersprach.
Sera schwieg. Dann sagte sie: »Das wäre natürlich mög lich. Mich hast du ja auch schon in deine Pechsträhne mit reingezogen. Stell dir vor, ich habe doch tatsächlich â¦Â«
»Danke«, unterbrach Emma sie verletzt. »Genau das wollte ich an meinem Geburtstag hören.«
Sera hustete. »Deswegen rufe ich ja so spät noch an«, sagte sie. »Ich wollte dir gratulieren. DreiÃig, was? Ist trostlos, ich weiÃ, man gewöhnt sich nie dran. Aber es gibt noch trostlosere Sachen, glaub mir, Marky Mark hin oder her.«
»Wem sagst du das?«, fragte Emma.
»Dir, aber nicht am Telefon.« Sera seufzte. »Wenn ich mit dir darüber rede, will ich deine Hand halten und an deiner Schulter weinen können. Das schuldest du mir.«
»Ich? Kannst du nicht wenigstens eine Andeutung machen?«
»Männer«, antwortete Sera, »und Zehntausender.«
»Ich verstehe kein Wort.«
»Ich kriege keinen Zehntausender mehr«, erklärte Sera. »Egal, mit wem ich es versuche, ich komme nicht mehr bis nach oben. Früher habe ich einen Zehntausender nach dem anderen geschafft, aber jetzt bin ich nervös und aufgeregt, und irgendwann machen die Kerle einfach schlapp.«
»Vielleicht verträgst du die Höhenluft nicht«, sagte Emma. »Und ich glaube, ich hatte noch nie einen ⦠Du weiÃt schon ⦠Ich weià nicht mal, wie sich so ein Zehntausender anfühlt.«
»Das meine ich ja. Du färbst offenbar irgendwie ab!«
»Mit Mark bin ich nicht mal in die Nähe von â¦Â«
»Stell dir einen Vulkanausbruch vor«, fiel Sera ihr ins Wort. »Champagnerfontänen. Ich und mein Magnum. « Sie seufzte erneut. »Sei froh, dass du den Knaben los bist. Was ist denn mit dieser Partner-Agentur? Hast du die Fotos endlich abgegeben?«
»Ich bin noch nicht so weit«, wich Emma aus. »Und wenn ich mich im Spiegel anschaue, entdecke ich nichts als Falten, KrähenfüÃe und graue â¦Â«
»Ach, das sind nur die sichtbaren Zeichen für die seelischen Turbulenzen einer Frau, die dreiÃig wird.« Sera kicherte. »Man zerfällt. Zelle für Zelle zerbröckelt unter dem Ansturm der Jahre, und am Ende ist man tot. Du bist doch Restauratorin. Sieh es als künstlerische Herausforderung, al fresco â¦Â« Sie hielt inne. »Da fällt mir ein â hast du noch die Telefonnummer von diesem Anwalt, ich weià den Namen nicht mehr.«
»Welcher Anwalt?«
»Der für dich und deinen Vater den Prozess gegen euren schmierigen ungarischen Baron geführt hat. Er steht nicht im Telefonbuch.«
»Ach, der. Kant. Erinnere mich bloà nicht! Was willst du denn von dem? Dass er nicht im Telefonbuch steht, hat bestimmt seinen Grund!«
Julian Kant und der gefälschte Cézanne gehörten für immer zusammen. Beides hätte Emma lieber im Dunkel gnädigen Vergessens belassen. Vor zwei Jahren hatte ein Kunde ihrem Vater ein Gemälde gebracht, ein Stillleben, nature morte, angeblich ein früher Cézanne. Ihr Vater hatte sie gebeten, einen Blick darauf zu werfen, bevor er das Bild zur Versteigerung brachte. Sie brauchte nur wenige Untersuchungen,
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