Der Angeklagte: Thriller (German Edition)
zwischendurch. Kannst du dich an jedes Detail erinnern, als du heute Morgen zur Schule fuhrst?«
»Wer hat sie dann ermordet?«
»Ro Curtlee war es, Jon. Ich war der Hauptgrund, dass er so lange im Gefängnis saß – und er brachte sie um und zerstörte meine Gemälde, um sich an mir zu rächen. Was ist daran so schwer zu verstehen?«
»Weil er einen gebrochenen Arm hatte, verdammt noch mal. Man konnte in jeder Zeitung nachlesen, dass die Polizei ihm bei der Verhaftung den Arm brach. Und man erwürgt nun mal niemanden mit einem gebrochenen Arm, schon gar nicht Mutter. Sie war ganz schön stark, sie war beim Armdrücken immer noch stärker als Peter. Also scheidet diese Möglichkeit aus. Und wer bleibt denn dann noch als Täter?« Er schlug mit seiner flachen Hand auf den Tisch. In seinen Augen spiegelten sich Wut und Verwirrung. »Glaubst du wirklich, ich hätte nicht lang und breit darüber nachgedacht? Glaubst du, dass ich mir wünsche, dass mein eigener Vater der Täter ist und unser aller Leben ins Chaos stürzt? Wenn es also nicht Ro Curtlee war – wer war es dann? Und dann kommst du und kannst dich nicht mal mehr dran erinnern, was du an diesem Morgen gemacht hast.«
»Ich habe mich erinnert – und ich erinnere mich auch jetzt. Es fiel mir nur im ersten Moment nicht mehr ein.«
»Hör dir doch selbst mal zu! Was für eine lahme Ausrede …«
»So war es aber nun mal, Jon. So war es.« In der Angst, ihn endgültig zu verlieren,unternahm er seinen letzten Versuch und beugte er sich vor. »Hör zu«, sagte er eindringlich. »Nun hör mir mal gut zu. Du wirst es nicht hören wollen, aber es war nicht ich, der eine Affäre hatte.«
»Willst du damit sagen, dass Mom eine hatte?«
»Genau, deine Mutter.«
»Was für ein Scheiß.«
»Nein, das ist eine Tatsache. Nur damit du weißt, dass noch jemand anderes auf der Bildfläche war.«
»Und wer soll das sein?«
»Das wissen wir noch nicht. Kommissar Glitsky tappt im Dunkeln. Vielleicht einer ihrer Patienten. Aber das Schlimme daran ist, dass Glitsky nun – wo Ro tot ist – sich nicht mehr überschlagen wird, um die Frage zu klären. Er glaubt ja auch, dass es Ro war.«
»Er kann das nicht glauben. Es ist einfach die bequemste Erklärung für ihn. Bei genauerem Hinsehen kann das aber gar nicht sein.«
»Er glaubt es trotzdem. Aber am Ende werden wir möglicherweise nie erfahren, wer sie umgebracht hat. Und das zu sagen bringt mich um. Aber so sieht die Lage nun mal aus.« Er streckte die Hand aus und berührte das Knie seines Sohnes. »Komm nach Hause, Jon. Bitte.«
Jons Mund blieb verkniffen, seine Körperhaltung angespannt – er war noch zu keinem Zugeständnis bereit. Tränen quollen aus seinen Augen und liefen die Wangen hinunter.
»Wo hast du überhaupt gesteckt?«
»Bei Rich.«
»Seine Eltern haben mir doch gesagt, du wärst nicht da.«
»Ich weiß.«
Michaels Ärger über das Verhalten von Richs Eltern entlud sich in einem wütenden Schnauben. »Wie dem auch sei: Am Mittwoch ziehen wir bei Chuck und Kathy aus und gehen vorübergehend in ein Motel. Ich glaube, dass wir wieder wie eine richtige Familie leben müssen. Glaubst du, dass du das auf die Reihe kriegst?«
Verärgert wischte sich Jon die Tränen aus dem Gesicht. »Ich weiß nicht, Dad. Ich weiß nur, dass ich denjenigen umbringen möchte, der sie umgebracht hat.«
»Ich auch, Jon, ich auch. Aber ich schwöre bei Gott, dass ich es nicht war. Du musst mir einfach glauben. Meinst du, du kannst das?«
Jon warf sich in den Stuhl zurück und verschränkte die Arme. Sein Gesicht war versteinert. Nach einer Weile dämmerte es Michael, dass er heute von seinem Sohn nicht mehr erwarten konnte. Er stand auf, legte ihm sanft die Hand auf die Schulter und ging hinaus.
Darrel Bracco formulierte seine Fragen so unverfänglich, dass Linda Salcedo nie auf den Gedanken kam, dass es ihm eigentlich um Ros Alibi am Morgen von Janice Durbins Tod ging. Er erweckte den Eindruck, als wolle er mehr über den Tagesablauf im Hause der Curtlees erfahren, und in diesem Punkt war sie sich absolut sicher: Seit er zum ersten Mal auf Kaution entlassen worden war, hatte Ro Curtlee – mit Ausnahme eines Tages in der letzten Woche und der Nacht nach seiner erneuten Verhaftung – jede Nacht in seinem Zimmer verbracht und war nie vor neun oder halb zehn aufgestanden. Linda wusste es so genau, weil sie selbst morgens um halb sieben aufstand und dann oben schon mit dem Saubermachen begann, bevor sie wieder
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