Love Alice
Love Alice
Ich erinnere mich noch, wie ich als Kind einmal meinen Schlüssel verloren habe. Es lohnt sich nicht, einen nachzubestellen, sagte Mama, wir würden bald weiterziehen. Also wartete ich nach der Schule, eine Stunde, manchmal zwei, bis sie nach Hause kam und mir die Tür öffnete. Ich hatte immer Geld bei mir und hätte überall hingehen können, etwas essen, etwas trinken, mich aufwärmen. Aber lieber saß ich auf den Stufen im Hinterhof. Pünktlich um halb zwei trottete die schrullige Nachbarin heraus und streute einen Kreis blasser Körner in den Hof. Das tat sie jeden Tag. Mama sagte, dass Tauben die Ratten der Lüfte seien und die Alte schlicht und einfach verrückt. Ich fand Tauben auch eklig.
Auf einmal öffnete sich eine der Garagentüren, ein Motor heulte auf. Die Tauben reagierten nicht und flogen erst hoch, als der Wagen auf sie zuschoss. Ein Vogel hatte es nicht geschafft, er wurde direkt vor meinen Augen überfahren. Die Taube war sofort tot, der Fahrer im Wagen bremste nicht mal, sondern raste davon.
Stumm betrachtete ich die kleine Taube, die in der Mitte des Körnerkreises lag. Mein Mund war ganz trocken. Plötzlich schien sich der Himmel zu bewegen, es wurde kurz dunkler und laut. Der Taubenschwarm kreiste mit weit gespreizten, staubigen Flügeln und ließ sich wieder auf dem Asphalt nieder. Aber die Tauben kamen nicht zum Körnerpicken. Sie bildeten einen Kreis um die Unglücksstelle. Nur einen Moment betrachteten sie den toten Vogel, der einer von ihnen gewesen war. Dabei wurde es merkwürdig still. Fast als hätte der Wind aufgehört, an den Bäumen zu zupfen, als hätten alle Tauben ihren Atem angehalten. Eklig fand ich die Vögel nicht mehr. Sie waren betroffen. Ihre Stille war feierlich und bedrohlich zugleich und ich bekam eine Gänsehaut. Dann erhoben sie sich und flogen alle zusammen davon.
Wenn etwas Schlimmes passiert, denken die meisten, wie gut, dass es woanders geschehen ist. Dass es nicht mir widerfahren ist. Möglicherweise ist man entsetzt, vielleicht weint man sogar mit den Menschen, die das Unglück erwischt hat. Vielleicht geht man in die Kirche und zündet eine Kerze an, wie Mama das macht. Manche Leute denken, es wäre jetzt gut, eine große Spende zu machen. Aber insgeheim, ganz tief in einem selbst, ist man froh, dass das Unglück an einem vorbeigezogen ist. Wie eine Gewitterwolke, wie der einschlagende Blitz. Man war eben nicht am falschen Ort zur falschen Zeit. Irgendwo im Hinterkopf macht sich die bequeme Lüge breit, es passiere immer nur anderen.
Aber manchmal ist es nicht so. Manchmal trifft es einen selbst direkt ins Mark. Und dann steht man da, gänzlich unvorbereitet. Und so endgültig wie der Tod bleiben die Fragen. Unglück geschieht durch Unachtsamkeit. Und manchmal ist da auch noch etwas anderes.
Die Pikdame
Die Leute sagen, Mama habe ein Charaktergesicht. Ihr schwarz gefärbtes Haar trägt sie glatt und kinnlang wie einen Helm. Das Gesicht stets geschminkt, Karminrot auf den Lippen. Früher wurden getrocknete Läuse zerrieben, um Karmin zu gewinnen, aber heute macht man es wohl anders.
Mama macht das Fliegen nichts aus. Wir fliegen viel und manchmal lange, meistens sehr spontan. Ich mag das Klappern im Flugzeug nicht, nicht die trockene Luft und nicht die schnarchenden Manager in der ersten Klasse. Ich mag nur die Luftlöcher. Beim Start und spätestens bei der Landung freue ich mich darauf. Ich fühle es im Bauch: Gleich geschieht etwas! Etwas Aufregendes, auf das ich lange gewartet habe, etwas, das mein Leben verändern wird. Mama ist es egal, ob wir neben der Notfalltür sitzen oder ob ich bei dem Vortrag über die Sicherheitsregeln zuhöre. Es geschieht, was geschehen soll, sagt sie, jeder hat sein Schicksal. Mamas Meinung nach sollte das Schicksal ihr einen Privat-Jet bescheren. Aber da hat die Vorsehung geschludert und wir sind auf die gewöhnlichen Airlines angewiesen. An meinem Fenster ziehen Nebelfetzen vorbei. Das euphorische Gefühl beim Abflug legt sich meistens ziemlich schnell.
Wir fliegen durch Wolken, und ich stelle mir vor, sie wären eine weiße Wüste aus Zuckerwatte. Die Zuckerwüste scheint unendlich, wie die riesige Torte aus der italienischen Kindergeschichte*, die auf einer Wiese gelandet ist. Alle Kinder aus der Stadt kommen, um die Torte zu sehen. Es könnte eine Schwarzwälder Kirschtorte sein. Sie spazieren im dunklen Schokobiskuit, mitten durch Likörpfützen, an den eingelegten Kirschen vorbei. Sie graben sich
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