Der Augensammler
Atemschlauch zu entfernen, der ihr Gesicht entstellte, doch ich brauchte nur in die hellgrauen, wässrigen Augen zu sehen, die hoch zu den matt gedimmten Deckenstrahlern starrten, um zu erkennen, dass es wirklich meine Mutter war, die hier im Wachkoma lag. Sie zuckte hin und wieder. Auch das war normal. Unbewusste Reflexe. Das Nachglühen auf der Mattscheibe eines alten Fernsehers, bei dem man schon längst den Stecker gezogen hat. Alles beim Alten. Auch ihr Stöhnen und der Geruch der Körperlotion, mit der sie täglich eingerieben wurde. Völlig normal.
Trotzdem. Etwas stimmt hier nicht.
In diesem Augenblick summte mein Handy und informierte mich erneut, dass schon vor Stunden eine Nachricht auf meiner Nummer eingegangen war, zu der ich eine Rufumleitung eingerichtet hatte. Ich hörte die Meldung ab. »Es ist das Pflaster.« Dr. Roth, der Mensch, mit dem ich am wenigsten gerechnet hatte, klang so, als hätte er im Lotto gewonnen.
Ich wechselte das Handy von einem Ohr zum anderen, in der vagen Hoffnung, dadurch besser zu verstehen, was er mir sagen wollte.
»Das Raucherentwöhnungsmittel, das Sie einnehmen, enthält Vareniclin. Dieser Stoff ist dem Goldregen, einer höchst giftigen Pflanze, sehr ähnlich. In den USA ist es bereits von der Flugsicherheit für Piloten verboten worden, weil das Medikament, ähnlich wie der Goldregen, halluzinatorische Wachträume verursacht.«
Ich langte unter mein T-Shirt und tastete nach dem Klebestreifen auf meinem Oberarm.
»Sogenannte Varenic-Dreams. Wir haben starke Spuren von Vareniclin in Ihrem Blut gefunden, Herr Zorbach. Womöglich rührt daher Ihre Nervosität, und es würde mich nicht wundern, wenn Sie Farben, Gerüche und Lichter intensiver wahrnehmen.« Dr. Roth lachte. »Sie haben keine schizophrenen Visionen. Einfach runter mit dem Ding, und alles kommt wieder in Ordnung.« Alles in Ordnung? Ich zerdrückte das Pflaster zwischen den Fingern und legte auf.
Nichts war hier in Ordnung. Ich konnte Frank nicht erreichen, die Polizei suchte mich wegen Mordes, und mein Psychiater sagte mir, ich solle mir wegen meiner Wahrnehmungsstörungen keine Sorgen machen. Ich sah zu dem dunklen Fenster, hinter dem die Sonne noch nicht aufgehen wollte; ließ meine Augen über das graugesprenkelte Linoleum wandern, über die Batterie an medizinischen Geräten, deren Namen ich nicht kannte und deren Betriebsanleitungen so dick wie Telefonbücher sein mussten. Dann blieb mein Blick an dem schwenkbaren Nachttisch hängen, der Mutters altes Tagebuch beherbergte, aus dem ich ihr immer vorlas, wenn ich sie besuchte. Sie selbst würde es nie wieder in die Hand nehmen können, um darin zu blättern und in nostalgischen Erinnerungen zu schwelgen, etwa von dem Tag, an dem wir den Pfad im Nikolskoer Forst zu meinem späteren Refugium entdeckten. Ich wollte gerade nachsehen, ob das kleine ledergebundene Bändchen mit der Goldgravur noch in der Schublade lag, als ich erkannte, was mich die ganze Zeit so beunruhigt hatte.
Das Foto.
Was zum Teufel...?
Als ich sie das letzte Mal besucht hatte, hatte es dort noch nicht gestanden. Der Rahmen schon; den hatte ich ihr selbst vor vielen Jahren zu Weihnachten geschenkt, gemeinsam mit einem der wenigen Fotos, das sogar ich von mir mochte. Es war von meinem Vater in einem unbeobachteten Moment vor dem Hauseingang aufgenommen worden und zeigte den siebenjährigen Alex, wie er sich mit konzentrierter Miene die Schuhe zuband. Es hatte mich immer melancholisch gestimmt, wenn ich das Foto betrachtete, erinnerte es mich doch an eine Zeit, in der meine größten Sorgen darin bestanden hatten, wegen meiner billigen Schuhe auf dem Schulhof ausgelacht zu werden. Ich griff nach dem Rahmen.
Das Bild von mir auf der Steintreppe steckte immer noch drin, allerdings nicht so, wie ich es kannte. Es war breiter geworden.
Wie ist das möglich?
Ich war geschrumpft, etwa auf die Hälfte der ursprünglichen Größe. Dadurch war der Bildausschnitt gewachsen, und dadurch war ich nicht mehr ...
... nicht mehr allein?
Meine Hände begannen zu zittern, als ich auf das zweite Gesicht starrte, das auf einmal rechts neben mir auf der Treppe saß und mir beim Binden der Schuhe zusah. Wer bist du?, flüsterte ich in Gedanken. Wer zum Teufel bist du?
Die Gesichtszüge kamen mir vertraut vor, doch das Kind war noch jünger, als ich es damals gewesen war, und ich erkannte keinen meiner damaligen Freunde. Was machst du auf meinem Bild?
Ich drehte den Rahmen um, öffnete die
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