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Der Augensammler

Der Augensammler

Titel: Der Augensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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sterben.
    Bis zu diesem Tag hatten wir immer nur davon gesprochen, Streichhölzer zu ziehen. Der, der gewann, sollte beim Begräbnis des anderen kontrollieren, ob Mama und Papa tatsächlich weinten.
    Doch an jenem Tag, an dem uns unsere Mutter zurückließ, schlug ich meinem kleinen Bruder eine andere Methode vor, um die Liebe unseres Vaters zu testen. Wir mussten uns verstecken!
    Nicht in unserem Baumhaus oder in dem Verschlag am See, sondern irgendwo, wo wir noch nie zuvor gewesen waren. »Wenn Papa uns noch liebt, wird er uns suchen. Und je schneller er uns findet, desto größer ist seine Liebe.«
    Es war eine kindische Gleichung, wie sie nur ein Siebenjähriger mit seinem verzweifelten Bruder aushecken kann, aber in ihrer kindlichen Naivität war sie von einer bestechend einfachen Logik, die mich auch heute, viele Jahre später, noch immer fasziniert.
    Wir fanden das geeignete Versteck bereits am nächsten Abend. Wer immer die uralte Gefriertruhe in den Wald gewuchtet hatte, hatte sich vorher wenigstens die Mühe gemacht, sie mit heißem Wasser auszuwaschen. Weder Lebensmittelreste noch Aufkleber oder Gerüche deuteten auf das, was in ihr einst aufbewahrt worden war, bevor wir uns in sie hineinlegten. Wir waren froh darüber, dass das geräumige Ding so nah an unserem Haus stand; am Rande einer Waldlichtung, noch dazu an dem Joggingpfad, den Papa jeden Abend nahm. Sie war eigentlich nicht zu übersehen, und so machten wir uns auch keine Sorgen, als wir den Deckel der Gefriertruhe nicht mehr anheben konnten, nachdem ich ihn über unseren Köpfen zugezogen hatte.
    Anfangs machten wir sogar noch Scherze über den kaputten Schraubenzieher mit dem Holzgriff, den der Vorbesitzer in der Truhe zurückgelassen haben musste und der sich nun in meinen Hintern bohrte. Später, als die Luft immer dünner wurde, half er uns ebenso wenig wie die Münze, die ich in meiner Hosentasche fand.
    Der Deckel saß fest. Und da die Truhe schon einige Jahre auf dem Buckel hatte, war sie noch nicht, wie heute aus Sicherheitsgründen vorgeschrieben, mit einem Magnetschloss, sondern mit einem Riegel versehen, der sich nur von außen öffnen ließ.
    Unser Liebestest hatte sich ungewollt zu einer Prüfung auf Leben und Tod entwickelt.
    »Papa wird bald kommen«, sagte ich.
    Ich sagte es immer wieder. Zuerst laut und kräftig, dann, als ich langsam müde wurde, immer leiser. Ich sagte es, kurz bevor ich einschlief, und unmittelbar nach dem Aufwachen. »Papa wird bald kommen.«
    Mein kleiner Bruder hörte es aus meinem Mund, als er sich einnässte, als er zu weinen begann und als der Durst ihn wieder weckte. Schließlich wiederholte ich es auch, während er schlief und nicht mehr aufwachen wollte.
    »Papa wird bald kommen. Er liebt uns, also wird er uns suchen und finden.«
    Doch das war eine Lüge. Papa kam nicht. Nicht nach vierundzwanzig Stunden. Nicht nach sechsunddreißig, nicht nach vierzig Stunden.
    Am Ende wurden wir von einem Waldarbeiter befreit. Nach fünfundvierzig Stunden und sieben Minuten. Zu diesem Zeitpunkt war mein kleiner Bruder bereits erstickt. Später sagte man mir, meinVater habe geglaubt, Mama hätte es sich anders überlegt und wäre noch einmal zurückgekommen, um uns doch noch abzuholen. Also war er entspannt mit Freunden um die Häuser gezogen, anstatt nach uns zu suchen.
    Noch heute bekomme ich die Vorstellung nicht aus dem Kopf, er könnte sich ein kühles Bier exakt in dem Augenblick genehmigt haben, in dem sich mein Bruder, rasend vor Durst, das Pflaster von seinem toten Auge gerissen hatte, um darauf herumzukauen. Und es vergeht keine Nacht, in der ich nicht in die leere Augenhöhle im Kopf meines leblosen Bruders starre, der nur sterben musste, weil sein Vater beim Liebestest versagte. Meine Großeltern, zu denen das Jugendamt mich später schickte, als es mir körperlich wieder besserging, gestanden mir einmal, wie groß ihre Sorge gewesen sei, die Sauerstoffarmut in der Gefriertruhe habe womöglich auch bei mir bleibende Schäden hinterlassen. Opa, ein bis ins hohe Alter noch aktiver Dorftierarzt, war der Meinung, der Umgang mit hilfebedürftigen Lebewesen würde mir guttun. Er nahm mich mit in seine Praxis, ließ mich assistieren und weihte mich nach und nach in die Geheimnisse der Tiermedizin ein, die mir auch heute noch nützlich sind. Wie man bei einer Operation das Ketamin in Relation zum Alter, Gewicht und Zustand der Kreatur bemisst, um eine stabile Narkose zu gewährleisten.
    Wie man bei einem

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