Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Ausflug

Titel: Der Ausflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Dorrestein
Vom Netzwerk:
herabfallen ließen. Vorsichtig begab er sich ins Gestrüpp. Unter seinen Füßen zerbrachen Zweige. Auch eine Fallgrube war ihnen zuzutrauen. Vor allem die beiden Achtjährigen, die Timo in für ihn ungewöhnlich sardonischer Art die Engel nannte, waren Wildfänge. Es war Laurens ein Rätsel, wie ein so sanftmütiger Mann zu solchen Töchtern kam. Bis hin zum Äußeren, mit zu einem dicken Balken zusammengewachsenen Brauen, waren sie die reinsten Räuberkinder. Das Einzige, worin sie sich voneinander unterschieden, war, dass Marleen eine Furche in ihrem stets entschlossenen Kinn hatte und Marise ein Grübchen. »Wo steckt ihr, ihr feigen Lauselümmel?«, rief er. Er fand das Gespann einfach großartig.
    Im Unterholz knackte es erneut. Er meinte, aus dem Augenwinkel kurz ein knallrosa T-Shirt gesehen zu haben. Das musste eine von den kleineren Schwestern sein, Klaar oder Karianne. Das jüngere Duo verlor in diesem Sommer zusehends seine molligen Ärmchen und runden Knie. Sie begannen, staksig in die Höhe zu schießen, und auf ihren breiten, sommersprossigen Frätzchen lag nicht mehr dieser permanente Ausdruck des Erstaunens darüber, wie groß die Welt war: Im Eiltempo traten sie bereits in die glutheißen Fußstapfen der Engel.
    Äste und Zweige beiseite schlagend, machte sich Laurens an die Verfolgung. Hier, am Rande der Weide, auf der die Bienen ihren Honig sammelten, war Gwens Garten Eden am wildesten. Hier war jeglicher Versuch der Kultivierung aufgegeben worden beziehungsweise am entschiedenen Widerstand der alten Bäume und Sträucher gescheitert. Man wähnte sich ineinem undurchdringlichen Wald und nicht etwa auf dem Gelände eines Gehöfts, an dem ein kerzengerader, von Menschenhand gegrabener Kanal entlangführte. Laurens kam es so vor, als rücke die verzauberte Wildnis Jahr für Jahr weiter vor, aber das konnte auch Einbildung sein.
    Mit den Armen rudernd bahnte er sich eine Schneise durch das nächste Gebüsch. Er erwartete, dass es sich dahinter lichtete und Sonnensprenkel durch das Blattwerk fallen würden. Doch das Laub war so dicht, dass er für einen Moment fast gar nichts mehr sah. Er musste die Hände ausstrecken und sich von Baum zu Baum tasten. Die Rinden fühlten sich leicht schleimig an, weil sie hier so wenig Tageslicht abbekamen, und sie gaben einen säuerlichen, erdigen Geruch von sich. Der Sommer schien plötzlich ganz weit weg zu sein. Laurens war schon drauf und dran umzukehren, als er gegen etwas stieß, das dumpf hallte. Es war ein großer Blechkessel, der ihm etwa bis an den Saum seiner kurzen Hose reichte, so einer, wie Gwen sie in der Kerzenmacherei benutzte.
    Befremdet sah er sich das Ungetüm an, obwohl es natürlich typisch Gwen war, verrosteten alten Schrott einfach ins Gestrüpp zu schmeißen. Er fasste den Rand an. Das Metall war kalt. Das Ding stand bis obenhin voll Wasser. Man hätte ein stattliches Ferkel darin kochen können.
    Plötzlich ertönte weiter entfernt schrilles Geschrei. Laurens ließ den Kessel Kessel sein und eilte in die Richtung, aus der das Geschrei kam, dem Sonnenlicht entgegen. Auf der Grenze zur Bienenweide verlangsamte er seine Schritte: Dort drüben rannten seine beiden Söhne gefährlich nah an den Kästen entlang.
    »Niels! Toby! Vorsicht da hinten!«
    Sie hörten ihn nicht. Lauthals schreiend preschten sie weiter, ganz mit sich beschäftigt, zwei kleine Hänflinge in Badehose.
    Sie müssen dringend zum Frisör, dachte Laurens, und sie brauchen neue Schuhe, und mit den T-Shirts, die er neulich auf dem Markt für sie gekauft hatte, war doch auch was nicht in Ordnung, die waren falsch genäht oder so. Da hatte er einfach Kleidung gekauft, die nichts taugte. Mutlosigkeit überkam ihn. Und doch war es einzig und allein seiner Kinder wegen, dass er es morgens fertig brachte, aus dem Bett zu kommen, jeden schmerzlichen Tag wieder. In seinen Träumen lebte Veronica meistens noch. Es war ja auch so unvorhergesehen passiert, oder vielleicht widersetzte sich sein Geist einfach mit aller Macht dem Unvermeidlichen. Jedenfalls war der Kontrast zwischen Schlafen und Erwachen so grausam, dass er jeden Morgen nur eines wollte: Sich für immer neben ihr ausstrecken und vergessen, was geschehen war.
    Seine Jungen waren nirgends mehr zu sehen. Die Bienen summten unvermindert.
    Hätte er dieses Jahr überhaupt herkommen sollen? Er hatte seinen Freunden momentan nicht viel zu bieten. Aber seine Söhne hatten sich so sehr auf den Besuch gefreut. Nach der Beerdigung hatte

Weitere Kostenlose Bücher