Der azurne Planet
»Das hört sich ja alles sehr schön an, aber in der Zeit, die wir damit verbringen, uns durch die Debatten zu kämpfen, sind unsere Schwammpfähle längst abgeerntet.«
»Besser einen Schwammpfahl verlieren, als das Risiko eingehen, König Krakon zu verärgern!« erwiderte Jonas Serbano beleidigt. »Die See und alles, was sich in ihr bewegt, ist sein Reich, und wir durchqueren sie auf eigene Gefahr!«
Der junge Garth Gasselton, der ursprünglich der alten Zunft der Wucherer angehörte, nun aber den Beruf eines Bodenabziehers ausübte, warf mit dem idealistischen Eifer der Jugend ein: »Wenn wir den Möglichkeiten, die sich uns bieten, entsprechend leben würden, wären wir längst die Herren der ganzen Welt. Alles würde uns gehören: die Plattformen, die Lagunen – selbst die See! Auch die Schwammpfähle wären dann unser Eigentum, und wir hätten uns vor niemandem mehr zu verbeugen!«
Auf der anderen Seite des Raumes saß an einem Tisch Ixon Myrex. Er war der Schiedsmann der Tranque-Plattform, ein Mann von großer körperlicher Kraft und hoher moralischer Reife. Bis zu diesem Augenblick hatte er der Diskussion schweigend zugehört und den Kopf in den Händen verborgen gehalten, um anzuzeigen, daß er nicht gestört zu werden wünschte. Nun aber stand er langsam auf und warf dem jungen Garth Gasselton einen strafenden Blick zu. »Du sprichst, ohne nachzudenken. Sind wir denn so allmächtig, daß wir nur noch mit der Hand zu winken brauchen, um alles unserem Befehl zu unterwerfen? Du solltest dir darüber klar werden, daß unsere Bequemlichkeit und die Tatsache, daß wir keinen Hunger zu leiden brauchen, nicht natürlich gewachsen sind, sondern Schätze einer Natur sind, die wir nicht hervorgerufen haben. Kurz gesagt: Wir existieren nur dank der Gnade von König Krakon – das sollten wir niemals vergessen!«
Der junge Gasselton blickte beschämt auf seinen Saftbecher, aber den alten Irvin Belrod konnte man auf diese Art nicht so schnell besänftigen. »Ich will dich an etwas erinnern, das du vergessen zu haben scheinst, Schiedsmann Myrex. König Krakon ist das, was er ist, weil wir ihn dazu gemacht haben. Ganz am Anfang war er ein stinknormaler Krakon, der vielleicht nur ein wenig größer und schlauer war als die anderen. Das, was er heute ist, ist er, weil jemand den Fehler begangen hat, ihn zu füttern. Und jetzt, nachdem man den Fehler einmal begangen hat, garantiere ich dir, daß König Krakon gelernt hat, daß wir ihn füttern, wenn er uns dafür die kleinen Räuber vom Halse hält. Aber wo, frage ich dich, soll das alles enden?«
Wall Bunce, ein alter Langfinger, der seit einem Absturz vom Gerüst des Signalturms verkrüppelt war, hob schulmeisterhaft einen Finger und sagte: »Vergeßt nicht Cardinals Ausspruch aus den Aufzeichnungen: Wer immer bereit ist, ein Opfer darzubringen, muß damit rechnen, daß sich jemand findet, der es auch tatsächlich annimmt.«
Jetzt betraten Semm Voiderveg und Zander Rohan die Taverne. Sie nahmen neben Ixon Myrex Platz und repräsentierten damit die drei einflußreichsten Männer von Tranque. Nachdem Ixon Myrex Voiderveg und Rohan begrüßt hatte, wandte er sich Wall Bunce zu. »Bevor du mich mit Zitaten aus den Aufzeichnungen bearbeitest, solltest du daran denken, daß ich dir gleichermaßen antworten kann: Der größte Narr ist der, der nicht weiß, wie gut es ihm geht!«
»Na gut«, konterte Bunce. »Ich kenne auch noch einen guten Spruch: Wenn du während eines Boxkampfes die Hände in den Taschen läßt, bleiben sie zwar warm, aber dafür bekommst du eine blutige Nase!«
Ixon Myrex schob zornig das Kinn vor. »Ich habe keine Lust, den ganzen Abend hindurch mit dir Zitate auszutauschen, Wall Bunce.«
»Das scheint mir kein gutes Argument zu sein, um einen Rückzug zu motivieren«, stichelte Irvin Belrod.
»Das sollte auch gar kein Argument sein«, erwiderte Ixon Myrex unbeholfen. »Es geht hier nämlich um Dinge von grundsätzlicher Bedeutung, und alles, was mit ihnen zusammenhängt, betrifft das Wohlergehen von Tranque und der anderen Plattformen. Eine Sache wie diese hier kann man einfach nicht von zwei Gesichtspunkten aus betrachten!«
»Moment, Moment!« protestierte ein junger Schreiber. »Auf diese Art lassen wir uns aber nicht überfahren! Daß jeder von uns das Wohlergehen und den Wohlstand Tranques im Auge hat, steht wohl außer Frage. Das einzige, was uns voneinander unterscheidet, ist die Tatsache, daß wir den Begriff ›Wohl‹ anders
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