Der Beethoven-Fluch
Gleichgewicht nicht zu verlieren. Die Handtasche rutschte ihr von der Schulter; der Inhalt ergoss sich über den Boden. Sie bückte sich und begann, alles wieder aufzusammeln. Eher aus Höflichkeit denn aus Hilfsbereitschaft ging der Platzanweiser ebenfalls in die Hocke, um ihr zu helfen. Genau darauf hatte Meer gehofft.
Blitzschnell fuhr sie hoch, war mit einem Satz durch den Eingang und rannte im Sprinttempo auf die Bühne zu.
95. KAPITEL
D onnerstag, 1. Mai – 20:07 Uhr
Nur wenige Konzertbesucher bemerkten den Zwischenfall. Die Musiker allerdings spürten sofort, dass etwas nicht stimmte. Den Taktstock in der Hand, erstarrte der Dirigent wie vom Donner gerührt. Sonst auf der Bühne stets Herr der Lage, starrte er seinen Solo-Oboisten an, als müsse er erst überlegen, wie es weitergehen sollte.
Zu seiner Überraschung spürte Twitschel, wie ihn auf einmal eine abgrundtiefe Traurigkeit überkam. Ihm war, als würde sich das Podest unter ihm auflösen, als würde er den festen Boden unter den Füßen verlieren. Er strampelte hilflos in Wasser, in eiskalten, schwarzen Fluten unter einem schwarzen, mond- und sternenlosen Himmel. Ringsum trieben Wrackteile seines Schiffes vorbei – zerbrochene Teile, zerbrochene Leben. Schreie ertönten von nah und fern. Als Kapitän trug er die Verantwortung für ihre sichere Überfahrt, und nun war er schuld an ihrer aller Tod. Die Hilfeschreie der Passagiere formten sich zu einem Muster; ihre Todesangst wurde zu einem Lied, zu einer Musik, die er, das wusste er jetzt schon, bis in alle Ewigkeit nicht würde vergessen können. Das eisige Wasser wurde warm; die Glieder wurden ihm schwer. Er wehrte sich nicht gegen das Ertrinken. Solange er nur nicht länger dieser grausigen Sinfonie aus Todesschreien lauschen musste!
Als Meer die Bühne erreichte, verschwamm alles vor ihren Augen. Das abgedunkelte Auditorium wurde zu einem nächtlichen Himmel.
Der Geruch nach Pferd, nach Tannen, nach frisch gefallenem Regen drang Margaux in die Nase. Der Wind blies so heftig, dass er ihr den von Beethoven ausgeborgten Hut vom Kopfe fegte und ihr das Haar schmerzhaft ins Gesicht peitschte. Beethovens vom kalten Regen durchnässter Mantel hing ihr nun schwer von den Schultern. Dabei hatte sie vor ein paar Stunden noch gedacht, diese Verkleidung sei eine gute Idee.
Major Wells, genauso klatschnass wie sie, schnappte schwer atmend nach Luft. Er hatte sich ganz schön anstrengen müssen, um sie einzuholen – immerhin etwas.
“Die nützt Ihnen sowieso nichts”, feixte er mit einem Blick auf die Pistole, die sie in der Hand hielt. “Mich übers Ohr hauen, ja, das konnten Sie wohl. Aber mich erschießen? Das bringen Sie nicht fertig. Außerdem ist Ihnen vermutlich das Pulver nass geworden, sodass das Ding sowieso nicht funktioniert.”
Caspar hätte den Kerl vermutlich von seinem Gaul geholt und ordentlich verprügelt. Ach, wäre es schön, wenn ihr Mann wieder da wäre, um sie zu beschützen! Allein, das war Wunschdenken. Am Abend zuvor hatte der Zar ihr die traurige Nachricht überbracht, dass ihr Gemahl tatsächlich tot war. Dass er noch irgendwo im Himalaja lebte, hatte Major Wells frei erfunden, um Margaux dazu zu verleiten, die Flöte mitsamt der Melodie der untergegangenen Erinnerungen zu stehlen und an ihn zu verkaufen. Alles ein ausgeklügeltes Ränkespiel, und zwar von Anfang an.
“Überall sitzen Spione, Major Wells”, sagte sie nun. “Wissen Sie noch? Ihre Worte! Nun, auch der Zar hat solche Spitzel, und durch sie ist er hinter Ihre Lügengeschichten gekommen. Sie kriegen die Flöte nicht, egal, womit Sie mir drohen!”
Der Zar allerdings würde sie auch nicht erhalten. Margaux hatte beschlossen, sie überhaupt nicht mehr zu verkaufen und die Spieleschatulle mit sämtlichen Hinweisen an Antonie Brentano zu übergeben – gemäß Beethovens Bitte.
Schon ihr Gemahl war auf der Suche nach diesem uralten Glücksbringer ums Leben gekommen. Dieser Abend bewies einmal mehr, welche Gefahr von ihm ausging. Margaux durfte nicht zulassen, dass noch mehr Menschen zu Schaden kamen. Das war bestimmt nicht in Caspars Sinn, weiß Gott!
Die Flöte an den Lippen, ließ Sebastian Otto die so täuschend einfachen Töne erklingen. Ein dünner, gleichzeitig herrlicher Klang durchzog den Saal und erfüllte Meers Denken. Zur selben Zeit brach um sie herum die Hölle los.
Keiner der Besucher vermochte sich der Wirkung zu entziehen. Schreie und Weinen waren zu hören; Schreckensbilder, Gerüche und
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