Mordlicht
EINS
Das Rotklinkerhaus
am Rande der Stadt machte einen gemütlichen Eindruck. Es mochte zu Beginn des
letzten Jahrhunderts gebaut worden sein und hatte sich den Charme dieser Zeit
bewahrt, auch wenn es durch diese oder jene bauliche Veränderung den heutigen
Anforderungen angepasst worden war.
Der Vorgarten war
mit Liebe angelegt, ohne den Eindruck zu vermitteln, dass jedes Grün akkurat
mit der Wasserwaage ausgerichtet und der Rasen mit der Nagelschere gepflegt
würde. Der rustikale Charakter der Grünfläche harmonierte hervorragend mit dem
Gebäude, in dessen Mauerwerk das raue Klima Nordfrieslands in den letzten
hundert Jahren seine Spuren gezeichnet hatte.
Der hoch gewachsene,
schlanke Mann beugte sich über die Beetrosen, um welke Blüten zu schneiden. Der
gesunde braune Teint ließ vermuten, dass er sich oft im Freien bewegte. Ein
grauer Haarkranz umrankte seine durch die Sonne verwöhnte Glatze und mündete in
einen mit einer Schleife gehaltenen Zopf.
Die etwas zu große
Nase wurde durch eine Goldrandbrille verziert. Ein gepflegter Dreitagebart im
wettergegerbten Gesicht unterstrich den Eindruck, dass ein zufriedener
Pensionär Haus und Hof bestellte.
»Sind Sie Pastor
Hansen?«, sprach ihn der Fremde an, der an den schmiedeeisernen Gartenzaun
getreten war.
Frode Hansen sah auf
und blinzelte gegen die Sonne.
»Hansen! Einfach nur
Hansen«, entgegnete er. »Ich bin seit vier Jahren im Ruhestand.«
Er lächelte den
Besucher freundlich an und zeigte dabei eine Reihe weißer Zähne, die so
ebenmäßig waren, dass sie auf den ersten Blick das Etikett »die Dritten«
verdienten.
»Was kann ich für
Sie tun?«
Der Fremde warf
einen kurzen Blick über die ruhige Straße am Ortsausgang Bredstedts, als wolle
er sich vergewissern, ob er beobachtet würde.
»Kann ich mal ‘n
Moment mit Ihnen reden?«
Hansen betrachtete
ihn. Sein Gegenüber mochte um die fünfzig sein. Der runde Kopf mit dem schütter
werdenden Haar saß auf einem zu kurzen Hals. Der Mann neigte zu Übergewicht,
ohne korpulent zu sein. Unruhig bewegte er seine Hände, während um seine
Augenwinkel ein nervöses Zucken spielte.
»Gern«, erwiderte
Hansen.
Erneut blickte sich
der Fremde um, bevor er fragte: »Kann ich unter vier Augen mit Ihnen sprechen?«
»Wir sind hier
ungestört. Niemand hört uns.«
Der Mann schüttelte
den Kopf. »Es ist etwas Wichtiges. Sehr Bedeutsames. Ich … ich möchte
beichten.«
Pastor Hansen wirkte
jetzt etwas irritiert. Er ließ die Hand mit der Rosenschere herabsinken.
»Kommen Sie herein«,
forderte er den Besucher auf und zeigte auf die Gartenpforte. Doch der Mann auf
der anderen Seite des Zauns schüttelte erneut den Kopf.
»Kann ich das nicht
in der Kirche machen? Im Beichtstuhl?«
Hansen machte einen
Schritt vorwärts. Im selben Moment wich der Unbekannte zurück.
»Das ist nicht so
einfach«, versuchte der Pastor zu erklären. »Ich bin … war … evangelischer
Geistlicher. Bei uns Protestanten gibt es keinen Beichtstuhl. Das ist eine
Institution der katholischen Kirche. Wenn Sie lieber mit meinem katholischen
Amtsbruder sprechen möchten – ich kann Ihnen die Adresse geben und auch den
Kontakt vermitteln.«
Unruhig sah sich der
Fremde auf der Straße um und murmelte halblaut vor sich hin: »Ach so, das habe
ich nicht gewusst. Dann kann ich also gar nicht bei Ihnen beichten?«
Hansen machte noch
zwei Schritte auf den Mann zu, erreichte die schmiedeeiserne Pforte und öffnete
sie. Einladend zeigte er mit der anderen Hand in Richtung Haus und bemerkte
erst nach einem ängstlichen Blick des anderen, dass er immer noch die
Rosenschere in der Hand hielt.
»Kommen Sie erst
einmal von der Straße. Im Haus lässt es sich leichter reden«, lud er den
Fremden ein.
Der Mann folgte
Hansen zögernd, als der auf die Haustür zuging. Der Pastor führte seinen
Besucher in das Arbeitszimmer, das mit seinen voll gestopften Regalwänden eher
einer Bibliothek glich. Er zeigte auf einen lederbezogenen Stuhl und nahm
selbst hinter dem Schreibtisch Platz. Erst jetzt wurde er sich bewusst, dass er
mit seiner Freizeitkleidung und den schmutzigen Gartenhänden keinen würdigen
Eindruck vermittelte.
»Ich bin seit vier
Jahren nicht mehr im Dienst«, erklärte er noch einmal, »das soll mich aber
nicht daran hindern, Ihnen Gehör zu schenken.«
Der Unbekannte
rutschte unruhig auf der Stuhlkante hin und her und besah sich seine Hände, mit
denen er nervös spielte. Ohne Hansen anzusehen, begann er leise zu sprechen:
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