Der Beethoven-Fluch
lassen. Es ließ sich eben nicht hieb- und stichfest beweisen, dass er im vorigen Sommer am Raub der Memory Stones beteiligt gewesen war, jenes sagenumwobenen “Schatzes der verlorenen Erinnerung”. Wann genau die Ermittlungsakte geschlossen werden würde, stand indes noch in den Sternen. Ein anstrengender Tag lag hinter Malachai, doch der Marsch durch den Central Park nach Uptown hinauf hatte sein Gutes: Die Pappnasen, die ihn auf Schritt und Tritt beschatteten, mussten ihm nun im Regen hinterherpirschen. Das war eine der wenigen vergnüglichen Seiten, die er dieser ansonsten hanebüchenen Situation abgewinnen konnte.
Der Spaziergang über die vergleichsweise ruhigen Wege der grünen Lunge der City war fester Bestandteil seines Tagesablaufs. Ganz besonders freute es ihn, dass sich im Park nur wenig verändert hatte, seit Landschaftsarchitekt Frederick Law Olmsted ihn Mitte des 19. Jahrhunderts angelegt hatte. Damals hatten seine Vorfahren wenige Häuserzeilen entfernt den Phoenix Club gegründet, den Vorgänger der Phoenix Foundation. Die Stiftung befasste sich seither mit dem Studium der Wiedergeburt und des Transzendentalen. Bei seinen Streifzügen durch dieses gartenbauliche Meisterwerk hatte Malachai zuweilen das Gefühl, noch in jener Gründerepoche zu leben.
Wenn er sich selbst gestattete, darüber nachzudenken, quälte es ihn, dass er keinen Zugang zu seiner eigenen Vergangenheit fand. Zwar hatte er als Erwachsener sein ganzes Leben lang mitverfolgt, wie Kinder sich mit der Last unerwünschter Erinnerungen herumplagten. Doch was seine eigene Vorlebenserinnerung anging, fand sich nicht der geringste Anhaltspunkt, so angestrengt er auch danach forschen mochte. Nach dem Fund der sagenumwobenen magischen Edelsteine war er jedoch ganz nah dran gewesen. Verdammt nah dran!
Auf Höhe 81. Straße und Central Park West verließ Malachai den Park durch das Hunter’s Gate und ging in nördliche Richtung weiter. Sein Ziel lag nur wenige Schritte abseits des Boulevards: eine im Queen-Anne-Stil erbaute Villa mit Gauben, verschnörkelten gusseisernen Geländern und einem Dutzend Wasserspeiern. Die Stiftung logierte nach wie vor in denselben Räumlichkeiten wie der ursprünglich im 19. Jahrhundert gegründete Verein. In die frühabendlichen Schatten getaucht, erweckte der Sitz der Phoenix Foundation einen düsteren Eindruck, als wäre er schier überwältigt von der Bürde all dessen, was sich in seinen Mauern abgespielt hatte: die Erforschung von Geburten, Todesfällen und Morden, gelebten und verlorenen Leben und der komplizierten Fragen, die sich daraus ergaben.
Auf dem Weg zu seinem Büro warf Malachai einen Blick in das verwaiste Wartezimmer und stellte zu seiner Erleichterung fest, dass es seiner Sekretärin offenbar gelungen war, ihm den Rücken freizuhalten. Er brachte es nämlich nicht übers Herz, ein Kind, das in Not war, abzuweisen. Bis dato hatten er und seine Tante, Dr. Beryl Talmage, die Vorsitzende der Stiftung, über dreitausend Kinder behandelt, die unter traumatischen Vorlebenserinnerungen litten. Bis zu einem gewissen Grad hatte man allen helfen können. Von Hause aus studierte Psychologen, waren sie beide der Ansicht, dass ihre Bemühungen bei der Suche nach dem mentalen Fingerabdruck wissenschaftlich ernst genommen werden sollten, und deshalb legten sie großen Wert darauf, dass ihre Arbeit frei von populistischem Zeitgeistfirlefanz blieb. Im Laufe der Jahre hatten sie erlebt, dass ihre Regressionstherapie bei Patienten, bei denen andere Behandlungsmethoden versagten, durchaus heilende Wirkung erzielte. Drei Viertel der Kinder, die zur Stiftung gekommen waren, konnten sie innerhalb eines halben Jahrs als geheilt verlassen. Was Malachai allerdings keine Ruhe ließ, das waren diejenigen Fälle, bei denen er am Ende seines Lateins war – wie beispielsweise Meer Logan. Sie war eine seiner größten Herausforderungen und eklatantesten Fehlschläge.
Er hatte sich gerade an seinen Schreibtisch gesetzt und war dabei, seinen Anrufbeantworter auf Nachrichten von Jeremy Logan zu überprüfen, da tauchte seine Tante in der Tür auf.
“Da bist du ja wieder”, sagte sie. “Wie lief es denn?”
Beryl litt an MS und war seit zwei Jahren mehr oder weniger auf einen Rollstuhl angewiesen. An diesem Abend wies aber nur ein elfenbeinerner Gehstock auf ihre Krankheit hin.
“Du siehst richtig gesund aus”, bemerkte Malachai.
“Noch immer nichts Neues? So eine Ermittlung, die kann doch nicht ewig
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