Der Beethoven-Fluch
Spieleschatulle aus dem 18. Jahrhundert steckt. Und die sieht ausgerechnet haargenau so aus wie das Kästchen, das meine Tochter seit ihrem siebten Geburtstag malt.”
“Ein Glücksfall …”, murmelte Malachai mechanisch, denn so begannen immer seine Vorträge vor verstörten Eltern, deren Kinder von Erinnerungen an ein früheres Leben heimgesucht wurden. An diesem Abend jedoch war es zur Abwechslung einmal er selbst, der die von seinem Freund erläuterten Zusammenhänge mit fassungslosem Staunen zur Kenntnis nahm.
Seiner Schreibtischschublade entnahm er einen Satz französischer Goldrand-Spielkarten, die er drei Mal teilte und neu stapelte. Sie waren etliche Tausend Dollar wert; die meisten Sammler hätten sie wohl in eine Glasvitrine gesteckt, doch dafür hantierte Malachai viel zu gern mit seinem Spielzeug herum. Gewöhnlich entspannte er sich dabei. Es beruhigte ihn, wenn beim Mischen die Kartenränder aufeinanderklatschten. Während er Jeremy nun ausfragte und sich die Antworten notierte, vollführte er vor unsichtbarem Publikum einen kleinen Taschenspielertrick: Er ließ den Karo König mitten im Kartenspiel verschwinden und deckte ihn anschließend als oberste Karte auf.
Wenngleich durchaus gelungen, erzielte der Trick nicht die gewünschte Wirkung: Malachai war nach wie vor verkrampft. Ein Teil des Erinnerungsschatzes war ihm schon durch die Lappen gegangen. Nun durfte er nicht noch einen verlieren. Und Meer sollte seine Versicherung dagegen werden.
8. KAPITEL
W ien, Österreich
Freitag, 25. April – 10:30 Uhr
Zwei Stunden, nachdem er mit einem rätselhaften Anruf einen Auftrag erhalten hatte, steuerte Paul Pertzler einen von zwei noch leeren Tischen im Café Mozart am Albertinaplatz an. Dabei kam er an einer allein sitzenden jungen Frau vorbei, die gerade eine Tasse Kaffee trank, und ließ den Blick wohlgefällig über ihre außergewöhnliche Figur streifen. Genauer gesagt über die Partien von der Taille an aufwärts, denn nur die waren sichtbar. Pertzler selbst war eine eher unscheinbare Gestalt – mittelgroß, hellbraunes Haar, dunkelbraune Augen und etwas rötliche Haut. Die Kaffeetrinkerin beachtete ihn gar nicht. Was ihm mehr als recht war, denn so konnte er sich ausgiebig an ihrem Dekolleté ergötzen. Das tat er so ausgiebig, dass er gar nicht bemerkte, wie ihm die Zeitung entglitt, die er sich unter den Arm geklemmt hatte.
“Verzeihung …” Der Mann, der ihm die Zeitung hinhielt, trug eine blaue Jeansjacke und eine Pilotenbrille mit blau getönten Spiegelgläsern. “Ist Ihnen runtergefallen.”
Ein wenig ernüchtert dankte Pertzler dem Gast, nahm die Zeitung entgegen und setzte den Weg zu dem freien Tischchen fort. Nachdem er sich ein Bier bestellt hatte, zündete er sich eine Zigarette an und betrachtete das Treiben draußen auf dem Gehsteig. Auf der Ringstraße herrschte allezeit reger Betrieb, unabhängig von Wetter, Jahres- oder Tageszeit. Der heutige Tag bildete da keine Ausnahme. Jenseits der Fahrbahn lag das eine komplette Straßenzeile einnehmende Rathaus – auf den ersten Blick ein wunderschönes architektonisches Kunstwerk, bis man merkte, wie schmutzig es unter der pompösen Fassade aussah. Der Ruß eines Jahrhunderts. Wien hatte eine perverse Neigung, sich verzweifelt an die Vergangenheit zu klammern, selbst wenn diese Vergangenheit vergiftet war. Der Zweite Weltkrieg war zwar vor über sechzig Jahren zu Ende gegangen, doch immer wieder kamen Erinnerungen an die Verwicklung Österreichs hoch. Ständig wurden neue Nazigräuel aufgedeckt.
Dass der Gast in der Jeansjacke das Lokal verließ, nahm Pertzler kaum zur Kenntnis, doch als die Frau in dem tief ausgeschnittenen Pullover ebenfalls ging, verfolgte er ihre Schritte mit höchster Aufmerksamkeit. Wenige Minuten nach ihrem Hinausgehen guckte er auf seine Armbanduhr, warf ein paar Euromünzen auf den Tisch und stand auf.
Er betrat den Rathauspark und schlenderte in aller Ruhe durch die gepflegten Gärten, die eine breite Palette von Gehölzen und ungewöhnlichen Bäumen umfassten. Einmal blieb er kurz stehen, um eine japanische Pagode und danach einen sehr alten Ginkgo genauer in Augenschein zu nehmen – äußerlich sehr interessiert, obwohl er ihn vermutlich nicht einmal von einem stinknormalen Ahornbaum hätte unterscheiden können. Egal: Ehe er die unter den Arm geklemmte Zeitung aufschlagen durfte, musste er sich vergewissern, dass niemand ihm folgte.
Telefonleitungen waren zu leicht anzuzapfen, Handygespräche
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