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Der Beethoven-Fluch

Der Beethoven-Fluch

Titel: Der Beethoven-Fluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M.j. Rose
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bekam sie allerdings nicht hinunter.
    “Vielleicht ist es am besten, wenn wir abwechselnd schlafen”, schlug Sebastian vor. “Sicherheitshalber. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass uns jemand gefolgt ist.”
    “Na ja, ich habe mein Nickerchen ja schon hinter mir. Legen Sie sich ruhig aufs Ohr.”
    Nachdem er sich ins Schlafzimmer zurückgezogen hatte, holte Meer die Flöte an den Couchtisch herüber. Stundenlang saß sie da, als würde sie bei dem Instrument Wache halten. Schließlich konnte sie aber nicht länger widerstehen: Sie nahm es ein weiteres Mal in Augenschein und musterte die eingeritzten Schnörkel – nicht so sehr die Linien im Einzelnen, sondern eher als visuelles Spiel mit den Mustern.
    Durch den Spalt zwischen den Vorhängen fiel das Mondlicht auf Meers Schoß und tauchte die dort ruhende Flöte in bläuliches Licht, wodurch die eingeschnitzten Rillen noch tiefer wirkten, als sie in Wirklichkeit waren. Mit geschlossenen Augen ließ Meer die Fingerspitzen über die Vertiefungen gleiten, als wolle sie ein Muster nach dem anderen ertasten und erforschen.
    Schläfrig, im Halbschlaf fast und bemüht, an nichts zu denken, verharrte sie so, lauschte dem Zischen, wenn ein Auto unten auf der regennassen Straße vorbeifuhr, berührte ihren Schatz …
    Immer wieder bewegte sie den Finger rund um ein bestimmtes Muster. Schlaf, tiefer, traumloser, ungestörter Schlaf befand sich im Zentrum des von ihr abgetasteten Kreises. Noch eine Runde, und dann würde sie das Ende des Traumes erreichen und endlich ausruhen können. Jeder würde dann Ruhe finden, nicht nur sie, nicht nur jetzt. Alle! Für alle Zeiten. Immer rundherum im Kreise – ein, zwei, drei, vier, fünf, sechs Mal, und dann ein weiterer Kringel und noch einer. Neun, zehn. Zehn Kreise, einer immer im nächsten.
    Sie senkte den Blick. Ihr Finger folgte gerade einem tief eingeritzten Kreis ganz nahe am Mundstück. Es war nicht bloß ein simpler Kringel, sondern er bestand aus etlichen kleineren, konzentrischen Kreisen. Eine ganze Serie, zehn an der Zahl insgesamt.
    Sie erinnerte sich an das Symbol, hatte es schon einmal gesehen. Nur wo?
    Erneut griff sie auf ihr Erinnerungsspiel zurück. Im Geiste ging sie eine Übung durch, bei der sie sich zuerst lauter Kreise ausdachte. Die dehnte sie immer weiter aus, als trete sie selber zurück und sähe sie auf einer grauen Metallscheibe. Das Ganze spielte sie so lange durch, bis sie zuletzt im Antiquitätengeschäft ihrer Mutter landete, fünfundzwanzig Jahre zuvor.
    Ein älterer Herr mit buschigem weißem Schnurrbart und Gehstock mit goldenem Knauf präsentierte ihrer Mutter gerade eine Uhr. Die wolle er ihr verkaufen, so erklärte er mit ausgeprägtem deutschem Akzent. “Diese Uhren wurden nur hundert Jahre hergestellt”, erläuterte er. “Flötenuhren, so nannte man die. Sehr unterhaltsam, die Dinger. Sehr beliebt. So populär, dass sogar Meisterkomponisten Stücke dafür komponierten. Hören Sie mal rein. Dieses Stück ist wunderschön. Hat Beethoven geschrieben – extra für diese Uhren.”
    Die Melodie, die jenem antiken Chronometer entschwebte, war Meers Einführung in die klassische Musik – das erste Stück, das sich tief in ihr Bewusstsein eingrub. Solange das kostbare Stück im Laden stand, pflegte Meer tagtäglich davor zu sitzen und dem Vorrücken der Zeiger zu folgen, immer darauf wartend, dass die Uhr zur vollen Stunde ihre Zaubermusik spielte. Die Uhr war die einzige Antiquität im Geschäft gewesen, aus der Meer sich etwas machte, und als sie verkauft wurde, hatte sie bitterlich geweint. Zum Ausgleich hatte ihre Mutter ihr Klavierunterricht angeboten; sie sollte lernen, eigenhändig Musik zu machen. Das Beethoven-Stück hatte sie allerdings nie erlernt und der Flötenuhr ewig nachgetrauert. Es war ihre Uhr gewesen, sie kannte jede Einzelheit: Das Ziffernblatt, die stählernen Orgelpfeifen, das Gehäuse, das Uhrwerk und das hinten auf dem Ziffernblatt eingravierte Herstellerzeichen.
    Dasselbe Zeichen, das sie nun vor Augen hatte.
    Zehn konzentrische Kreise.
    Und exakt wie bei dem Herstellerzeichen sah man zudem kleine lotrechte Striche – Einkerbungen, die die Kreise markierten. Obwohl alles so lange her war, war Meer doch fest überzeugt, dass sie sich an derselben Stelle befanden, dass alles an den Kreisen auf der uralten Knochenflöte genau so war wie auf der Rückseite jener Flötenuhr, deren Musik damals ihre Einführung gewesen war in die Welt der Klassik: in die Musik

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