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Der Beethoven-Fluch

Der Beethoven-Fluch

Titel: Der Beethoven-Fluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M.j. Rose
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ihn verlangte.
    Wo mochte Meer stecken? Und um mit Kalfus zu sprechen: Wieso nimmst du ihr Verschwinden so persönlich?

70. KAPITEL
    M ein Leben war mir oft wie eine Geschichte erschienen, die keinen Anfang und kein Ende hat. Ich hatte das Gefühl, ein historisches Fragment zu sein, ein Auszug, für den der vorhergehende und nachfolgende Text fehlte. Ich könnte mir gut vorstellen, dass ich in früheren Jahrhunderten gelebt habe und dort an Fragen gestoßen bin, die ich noch nicht beantworten konnte; dass ich wiedergeboren werden musste, weil ich die mir gestellte Aufgabe nicht erfüllt hatte.
    – Carl Gustav Jung –
    Donnerstag, 1. Mai – 08:00 Uhr
    “Guten Morgen!”
    Die Stimme zerriss die Stille und schreckte Meer auf. Ruckartig fuhr sie hoch.
    Es war nur Sebastian.
    “Wie viel Uhr ist es?”, fragte sie. “Ich wollte doch gar nicht einschlafen!”
    “Kein Grund zur Sorge. Wir sind immer noch hier. Die da auch.” Er wies auf die Flöte. “Es ist acht Uhr. Der Strom ist wieder da. Möchten Sie Kaffee? Etwas zu essen? Sie haben gestern Abend ja kaum etwas zu sich genommen.”
    “Hat das Hotel Zimmerservice?”
    “Unten gibt’s ein Frühstücksbüfett, aber ich kann mal fragen, ob man Ihnen etwas heraufbringt. Was möchten Sie denn gern?”
    “Kaffee, Toast, etwas Honig. Falls es Rührei gibt, dann etwas davon. Und ein Glas Saft.”
    Als Sebastian wieder ins Zimmer kam, meldete er, man werde sofort jemanden mit dem Frühstück heraufschicken. “Es dürfte nicht lange dauern.”
    “Ich muss meinen Vater anrufen und hören, wie es ihm geht. Und Malachai auch.”
    “Alles schon erledigt”, teilte Sebastian ihr mit. “Unten an der Straße ist eine Telefonzelle. Während Sie schliefen, habe ich mich von dort nach Nicolas’ Befinden erkundigt und sowohl Malachai als auch Ihren Vater angerufen. Der war allerdings noch nicht wach. Laut Auskunft der Schwester hat er sich gut erholt, das Fieber ist während der Nacht zurückgegangen. Ich habe ihm ausrichten lassen, Sie kämen am Vormittag vorbei. Das passt Ihnen doch, nehme ich an, oder?”
    “Ja, danke. Wie geht es Ihrem Sohn denn?”
    “Besser. Bezüglich der Lungenentzündung, wohlgemerkt.”
    Als das Frühstück gebracht wurde, nahm Meer sich sofort den Saft vom Wägelchen, während Sebastian die Rechnung quittierte. Nachdem der Kellner wieder gegangen war, schloss Sebastian doppelt hinter ihm ab. Die Vorsichtsmaßnahme weckte in Meer sofort wieder jene Ruhelosigkeit, die der Schlaf vorübergehend vertrieben hatte. “Das mit Ihrem Sohn ist ja eine schöne Nachricht”, meinte sie.
    “Ja, schon … Aber die Gefahr ist bei Weitem nicht gebannt. Im Gegenteil: Mit jedem Tag, an dem er sich weiter in sich selber verkriecht, wird sie um ein Vielfaches größer.” Sebastian schenkte sich Kaffee ein. “Entschuldigen Sie, ich bin nur furchtbar frustriert. Ich habe auch versucht, meine geschiedene Frau anzurufen, aber sie ließ sich verleugnen. Was soll das? Ich habe dem Jungen doch nie etwas getan! Wenn nichts mehr hilft – warum dann nicht eine Alternative ausprobieren?”
    “Ich weiß noch, wie sich meine Mutter aufgeregt hat, als mein Vater mich Malachai Samuels vorstellte.”
    “Er hat mir schon erzählt, dass er es nicht leicht hatte.”
    “Leicht hatten wir’s alle nicht.” Meer biss in eine Scheibe Toast. Noch vor Minuten hatte sie einen Bärenhunger verspürt, doch jetzt war ihr der Appetit vergangen. Erinnerungen, derer sie längst überdrüssig war und die sie nur zu gern ausgeblendet hätte, flammten wieder auf: abendliche Wortgefechte hinter der Schlafzimmertür, Auseinandersetzungen im Flüsterton, das eisige Schweigen, das die gesamte Familie in jenem letzten Winter entfremdet und in die Isolation getrieben hatte. Was wäre wohl geschehen, wenn sie den Eltern ihre Schreckgespenster verschwiegen hätte? Wären sie dann zusammengeblieben?
    “Ich weiß nur eins”, bemerkte Sebastian. “Sie will verhindern, dass ich alles Menschenmögliche für meinen Jungen unternehme, aber das lasse ich mir nicht bieten.” Er stand auf. “Ich gehe schnell unter die Dusche.”
    Als sich die Badezimmertür hinter ihm schloss, bereute Meer es schon fast, dass sie ihm die fabelhafte Neuigkeit von der entschlüsselten Flötenmelodie vorenthalten hatte. Hatte sie sich denn nicht speziell seinetwegen am Abend zuvor solche Mühe gegeben? Damit er das Lied seinem Sohn vorspielen konnte, um Nicolas auf jene Weise zu helfen, die ihr selber bislang versagt

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