Der Beethoven-Fluch
es Dutzende. Sicher war ihnen inzwischen auch klar geworden, was er selber bereits die ganze Zeit wusste: Falls es überhaupt eine Möglichkeit gab, die Flöte mitsamt der Melodie der untergegangenen Erinnerungen zu finden, ging dies nur über Meer Logan. Anders herum: Sollte ihr etwas zustoßen, war jede Chance auf ein Auffinden des Instruments dahin.
In diesem Leben, so Malachais Schlussfolgerung, würde sich eine Gelegenheit zum tatsächlichen Beweis der Wiedergeburt nicht mehr allzu oft ergeben. Einmal hatte er so eine Chance ohnehin schon verpasst. Das durfte sich auf keinen Fall wiederholen. Aber sich freiwillig an die Polizei wenden?
Er malte sich aus, wie Detective Barry Branch daheim in New York sich bei dieser Nachricht ins Fäustchen lachte. Der Kripobeamte mit dem Milchgesicht, seinerzeit leitender Ermittler im Fall “Memory Stones”, würde die Sache dann gewiss neu aufrollen. Und Malachai würde erneut Gegenstand intensiver polizeilicher Nachforschungen werden, wenngleich im Grunde genommen nichts gegen ihn vorlag. Bis dato hatte man nicht den kleinsten Beweis. Man würde auch in Zukunft nichts entdecken.
Der stählerne Türgriff fühlte sich kalt an; die gläserne Tür war schwerer als erwartet. Drinnen herrschte ein solch hektisches Kommen und Gehen, dass Malachai erst zur Kenntnis genommen wurde, als er schon fünf Minuten vor dem Eingangsschalter stand. Dann endlich wurde der diensthabende Beamte auf ihn aufmerksam. In gebrochenem Deutsch machte Malachai ihm klar, man solle ihm doch bitte einen Beamten mit Englischkenntnissen herholen.
Während er auf einer unbequemen Bank wartete, zog Malachai ein Kartenspiel hervor, begann wie üblich, es zu mischen, und ließ sich von dem eintönigen Klatschen einlullen. Im Geiste ging er immer wieder durch, was er dem Polizisten sagen und was er lieber für sich behalten wollte. Vorbereitung war das A und O; es galt, nicht mehr zu verraten als unbedingt nötig.
Die Story, die er dem Beamten unterzujubeln gedachte, war folgende: Er sei nach Wien gekommen, um sich mit seinem alten Freund Jeremy Logan zu treffen und ein von Logan entdecktes antikes Kleinod zu begutachten. Als Vorsitzender der Phoenix Foundation konnte er gute dienstliche Gründe vorweisen.
Die Karten wurden immer schneller.
Oder sollte er besser schnellstens wieder abhauen? An solches Zaudern nicht gewöhnt, ärgerte Malachai sich, dass er seine Entscheidung jetzt doch in Zweifel zog. Außerdem, da er nun schon mal hier war: Wenn er jetzt einfach wieder verschwand, machte er sich womöglich erst recht verdächtig; er hatte sich ja schon namentlich angemeldet. Durch all dies Hin und Her geriet er beim Mischen durcheinander; die Blätter flogen ihm aus den Fingern und verteilten sich über den Boden. Dass er die auf allen vieren wieder auflesen musste, hatte ihm gerade noch gefehlt. Andererseits wollte er sie auch nicht wie Müll einfach auf dem Fußboden liegen lassen.
“Dr. Samuels? Ich bin Inspektor Kalfus. Sie hatten um jemanden gebeten, der Englisch spricht. Was kann ich für Sie tun?”
78. KAPITEL
D onnerstag, 1. Mai – 11:26 Uhr
Die Scheibenwischer zuckten hin und her über die Frontscheibe des Taxis, kämpften gegen den unaufhörlichen Regen an. Bisher waren sie durch völlig fremde Viertel gefahren, doch jetzt bogen sie in die Engerthstraße ein. Die Hände krampfhaft ineinander verschränkt, erkannte Meer durch die nasse Scheibe die steinernen Pfeiler der Toller Archäologiegesellschaft.
Als sie die Treppe hinaufstieg, sah sie am Tor ein knallgelbes Schild mit einer durchgestrichenen Tür darauf – ein unübersehbares “Zutritt verboten”. Trotz dieses Warnhinweises und ungeachtet der Tatsache, dass die Gesellschaft ja erst am Nachmittag ihre Pforten öffnete, betätigte Meer die Türklingel.
Dreißig Sekunden verstrichen. Meer hämmerte an die Tür. Sechzig Sekunden. Sie klingelte noch einmal. Neunzig Sekunden. Den Finger auf dem Klingelknopf, rätselte Meer darüber nach, woher Sebastian wohl wusste, wo ihr Vater war. Warum hatte der die Klinik überhaupt verlassen, wo doch ein Eingriff erforderlich war? Würden sie und Sebastian ihn wohl rechtzeitig finden? Diese Fragen gingen ihr nun schon seit ihrer Flucht aus dem Hotel durch den Kopf.
Wieso machte denn niemand die Tür auf?
Plötzlich durchzuckte sie ein furchtbarer Gedanke: Du kennst Sebastians Handschrift nicht! Vielleicht stammte der Brief gar nicht von ihm! Was, wenn der Maskierte aus dem Wienerwald auch
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