Der Beethoven-Fluch
nötigenfalls ihr Wissen bündeln und sowohl die Flöte als auch die dazugehörige Weise ausfindig machen.”
“Soll das heißen, er hat die Melodie entschlüsselt?” Dr. Aldermann stockte der Atem.
“Behauptet er jedenfalls. Und ehe Sie mich fragen: Ja, ich hab’s überprüfen lassen, von zwei Musikwissenschaftlern. Aber es gibt in Beethovens Nachlass keine vollendeten oder unvollendeten Kompositionen für Flöte, die relevant und entsprechend datiert wären. Fehlanzeige.”
“Wenn er sich solche Umstände gemacht hat, muss ihm der Fund eine Heidenangst eingejagt haben”, bemerkte die Wissenschaftlerin. “Oder litt er etwa an Verfolgungswahn?”
“Er galt zwar als überängstlich und leicht reizbar, aber unberechenbar oder paranoid war er nicht”, betonte Brecht, der Musikliebhaber unter den dreien. “Obwohl er vermutlich von den Gerüchten wusste, die kursierten, als Mozart nur sechs Wochen nach der Uraufführung der Zauberflöte starb. Es gibt Verschwörungstheorien, wonach Mozart vergiftet wurde, weil er in seiner Oper Geheimnisse der Freimaurer preisgegeben habe. Nicht ausgeschlossen, dass Beethoven befürchtete, ihm drohe womöglich ein ähnliches Schicksal wegen dieser indischen Flöte. Vielleicht hat er geglaubt, dem Instrument wohnten ebenso ungewöhnliche Eigenschaften inne, die mit dem Kreislauf von Leben und Tod zu tun haben, wie man sie Mozarts legendärer Zauberflöte nachsagte. Vielleicht hat er deshalb lieber die Finger davon gelassen.” Brecht nippte an seinem Cognac.
Erika Aldermann runzelte noch immer die Stirn, doch ihre Augen leuchteten auf. “Und wenn er gemerkt hat, dass das mit dieser Flöte der untergegangenen Erinnerungen funktioniert?”, fragte sie aufgeregt. “Wenn die Zuhörer, die der Melodie lauschten, ihre Schwingungen fühlten? Wenn sie sich an ihre Vorleben erinnerten? Vielleicht meinte er das mit gefährlich !”
Fremont Brecht knallte den Cognacschwenker so heftig auf den Marmortisch, dass es bedrohlich schepperte und ein Stückchen Glas klirrend absprang. “Solange wir nicht wissen, ob der Brief tatsächlich von Beethoven stammt, ist das alles reine Spekulation!”
“Aber zeitlich würde es passen!” So leicht ließ Dr. Aldermann sich nicht von ihrer Hypothese abbringen. Dafür gefiel sie ihr viel zu sehr.
“Passen?”, echote Jeremy. “Wozu?”
“Zu Heinrich Wilhelm Doves Entdeckung der binauralen Takte 1839 …”
“Erika!” Brecht unterbrach sie lachend. “Das führt doch zu nichts! Reine Kaffeesatzleserei!”
Das sah Jeremy allerdings anders. Dass binaurale Takte – Niedrigfrequenzen, die die Gehirntätigkeit anregen – Vorlebenserfahrungen auslösen könnten, hatte er erstmals in Erwägung gezogen, als Meer anfing, Musik zu hören, die niemand sonst vernahm. Dr. Aldermanns jüngste Forschungsergebnisse ließen vermuten, dass an dieser Theorie etwas dran war. Über die Hälfte der Probanden bei ihren Nahtodstudien hatte bei ihren Reisen Musik gehört. Und als sie dazu aufgefordert wurden, diese Töne aus einem Dutzend anderer Klänge herauszuhören, wählten sie allesamt das Stück mit binauralen Frequenzen.
“Von wegen Spekulation! Es gibt Unmengen von wissenschaftlichen Daten, die die Auswirkungen von religiösen Gesängen, Musik, Getrommel und anderen akustischen Phänomenen auf Körper und Geist aufzeigen.” Dr. Aldermann war wie aufgedreht angesichts der sich ergebenden Querverbindungen. Sie redete immer schneller, sodass sie fast ins Stottern geriet. Sie glaubte, dass Frequenzen, wie sie Menschen mit Nahtoderfahrungen hörten, jenen Bewusstseinszustand herbeizuführen vermochten, in dem Erinnerungen an ein vorheriges Dasein möglich waren.
“Mal angenommen”, setzte sie energisch nach, “wir fänden die Flöte und würden beweisen, dass Vorlebenserinnerungen durch akustische Manipulationen stimuliert werden können – wir würden die Theorie von der Wiedergeburt revolutionieren! Und nicht nur die, sondern die Theorie von Zeit und Raum ebenso! Das wäre ein gewaltiger wissenschaftlicher Durchbruch!”
“Und all das dank unseres jüdischen Helden hier.” Brecht wies auf Jeremy.
“Jüdisch?”, fragte Jeremy. “Was tut das denn hier zur Sache?”
“Stellen Sie sich mal vor, Sie könnten beweisen, dass der Mensch selber für seine ewige Ruhe verantwortlich ist und jeder selbst bestimmen kann, ob er in den Himmel kommt! Man würde Sie als Pontius Pilatus des 21. Jahrhunderts an den Pranger stellen. Die Kabbala würde
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