Der Beethoven-Fluch
gekocht.
“Haben Sie denn nachgeguckt, ob Ihr Rettungsboot nicht auch beschädigt ist?”
Aber es war tatsächlich unversehrt.
Wassong holte ein zusammengerolltes Seil aus dem Rucksack, vertäute es am Boot und überprüfte, ob es auch fest saß. Damit fertig, nahm er seine Brille ab, putzte sie mit dem Halstuch sauber, fuhr sich über die Stirn und setzte die Brille wieder auf.
“Sobald ich drüben bin, gebe ich Ihnen ein Zeichen. Dann können Sie das Boot rüberziehen.” Er warf David das Seilende zu.
Während David verfolgte, wie der in den Dampfschwaden nur schemenhaft erkennbare Wassong über den See paddelte, grübelte er noch einmal über die Wahrscheinlichkeit nach, dass Ratten solche Löcher ins PVC beißen oder kratzen konnten. Als wolle er den Ablauf für einen Zeitungsartikel rekonstruieren, ließ er vor seinem geistigen Auge Revue passieren, wie er mit Wassong angekommen war und wie sie die Schlauchboote verstaut hatten. Hatte Wassong da etwa genug Zeit gehabt für einen Sabotageakt? Und wenn ja – wozu? David merkte, wie ihm der Schweiß in den Nacken tröpfelte. Die Jacke hatte er bereits ausgezogen. Jetzt knöpfte er sein Hemd auf, tupfte sich die Stirn mit dem Ärmel ab, holte seine letzte Wasserflasche aus dem Rucksack und trank das bisschen, was noch darin war, aus. Sie hatten nur Verpflegung für den einen Tag dabei, und der ging zu Ende.
Vom See herüber drang das gleichmäßige Klatschen von Wassongs Ruderschlägen.
Auf dem Hinweg hatten sie sich nicht lange hier aufgehalten. Sie hatten ruckzuck die Boote aufgepumpt und die Ruder zusammengesteckt. Dann waren sie über den See gepaddelt und weitermarschiert. Nein! Gar nicht wahr! Jetzt fiel es David plötzlich ein. Natürlich! Sie hatten doch einen Augenblick angehalten! David hatte sich nämlich erst orientieren müssen, um die Route auf sein Diktiergerät zu sprechen, damit er sie in der kommenden Woche im Gedächtnis hatte und allein hin-und zurückfand. Und was hatte Wassong währenddessen gemacht?
Angestrengt dachte er nach. Eigentlich brauchte er nur das, was sich ein paar Stunden zuvor abgespielt hatte, doch was ihm stattdessen in den Sinn kam, war ein anderer Abend. Das letzte Mal hatte er das Diktiergerät vor gut einem Jahr benutzt. Da hatte er gerade ein aufgenommenes Interview vorgespult, weil er spät dran war mit einer Reportage über Ausschreitungen im Gazastreifen und dazu ein letztes Zitat suchte. Er hatte noch auf die Uhr geguckt – kurz nach sechs Uhr am Abend – und gedacht: Ich werde mich verspäten. Ich muss mich beeilen. Dass zu diesem Zeitpunkt seine ganze Familie bereits tot war, ahnte er nicht.
Alle, ausnahmslos alle , waren ausgelöscht worden.
Bei der Party zum achten Geburtstag seines mittleren Sohns war eine Handgranate in das Haus der Yaloms geschleudert worden. Ein Geschenk von Ahmed Abdul. Die Retourkutsche dafür, dass David seiner Aufgabe als Journalist nachkam.
Zwei Wochen zuvor hatte er über die Palästinensische Volksbefreiungs-Partei berichtet und behauptet, sie stehe kurz vor dem Zusammenbruch; der Führer der Organisation, Ahmeds Bruder Nadir Abdul, werde des Landes verwiesen. Vierundzwanzig Stunden nach Erscheinen des Berichtes beging Nadir Abdul Selbstmord. Zwölf Stunden nach seiner Beerdigung trafen die ersten Todesdrohungen gegen David ein. Um allen Risiken vorzubeugen, hatte die Redaktion eine führende Sicherheitsfirma engagiert, um ihn und seine Angehörigen zu schützen.
Weil David an jenem Abend später als sonst nach Hause kam, entging er als Einziger dem Anschlag. Dass er überlebt hatte, betrachtete er indes als besonders infamen Winkelzug eines Gottes – an den er dadurch jeden Glauben verloren hatte. Was sollte das für ein Leben sein, wenn man tagtäglich jede Minute quasi im Zeitlupentempo die Szenen nach der Explosion noch einmal erlebte? Wenn man das, was nach der Druckwelle übrig geblieben war, bildlich vor sich sah wie in einer mentalen Endlosschleife, die mit jeder Wiederholung grauenhafter wurde? Eigentlich sollte die Zeit die Wunden heilen und helfen, zu vergessen. Doch bei ihm funktionierte das so nicht.
Es ging auch nicht nur um seinen persönlichen Verlust. Der endlose Teufelskreis aus Gewalt, Repressalien und noch mehr Gewalt setzte sich fort, immer nach demselben Muster. Bagdad, Mogadischu, Tel Aviv, Sadr City …
Schon seit Mitte der Neunzigerjahre berichtete David über Terrorismus. Er infiltrierte Schläferzellen, interviewte Selbstmordattentäter und
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