Der Beethoven-Fluch
mir aus die Köpfe heiß reden – aber bitte nicht in meiner Gegenwart.” Wenngleich sie dieses Mal nicht so überzeugt war wie sonst, verfiel Meer in ihre alten Reaktionen auf diese Auseinandersetzung. Sie drückte sich sogar fast wie ihre Mutter aus. Es war dieselbe Streiterei, die sie zwischen ihren Eltern immer mitgehört hatte, wenn die beiden glaubten, die Kleine würde schlafen. Meer hätte gern gewusst, wie genau sie die Worte ihrer Mutter getroffen hatte, denn ihr Vater schaute ziemlich pikiert drein.
“Deine Mutter hat dich wohl sehr beeindruckt, hm?”, fragte er. “Ich wollte, ich könnte dich davon überzeugen, dass Glaube auch Seelenfrieden bringt.”
Wieder wollte sie etwas entgegnen, aber er kam ihr zuvor. “Stimmt, du hast recht. Nicht hier. Wir müssen sowieso zurück zur Beerdigung. Wenn wir den Weg da nehmen, kann ich dir trotzdem das zeigen, weswegen ich dich hergeführt habe.”
Das Hallen ihrer unterschiedlichen Schritte auf dem Pflaster unterstrich sowohl die körperliche als auch die emotionale Distanz zwischen ihnen. Schweigend schlenderten sie ein ganzes Stück weiter, bis sie an eine kleine Rasenfläche mit einem Eisengitter davor gelangten. Umgeben von konisch gestutztem Immergrün, strebte ein weißer Obelisk himmelwärts, schlicht und doch majestätisch. Auf dem Sockel prangte in schwarzen gotischen Lettern ein aus einem Wort bestehender Name. Wie ein Stich durchzuckte es Meer, als sie begriff, dass sie vor Beethovens Grabmal stand. Mund und Augen wurden ihr trocken; ein Gefühl von Trauer und Leere ergriff von ihr Besitz.
Ihr Vater wartete einige Minuten, ehe er murmelte: “Wir müssen.”
Auf dem Rückweg passierten sie weitere Steindenkmäler. Jeremy zeigte Meer die letzte Ruhestätte von Johannes Brahms und dann von Franz Schubert. Während sie so an wunderschön gestalteten Gedenkstätten für vollendete Lebenskreise großer Verstorbener vorbeischlenderten, fiel Meer auf, dass hin und wieder ein Blumenstrauß vor einem Grabmal stand – meist auf dem Grab einer Berühmtheit. Ihre Mutter hatte ihr einmal gesagt, solange man geliebt werde, sei man nicht endgültig tot.
“Alle großen Österreicher liegen hier begraben. Baumeister, Politiker, Künstler, Schriftsteller … auch eine ganze Zahl von Memoristen. Ich glaube, wenn wir auf diesem Weg bleiben, kommen wir noch …” Jeremy hielt vor dem Bildnis eines männlichen Engels mit wunderschön gestalteten Flügeln. “Ach ja, da ist es schon.” Die Trauer auf den Zügen der Statue wirkte dermaßen naturgetreu, dass es Meer regelrecht verzauberte. Die Hand des Engels ruhte auf dem von ihm bewachten Grabstein, als hüte er ein lebendiges, geliebtes Wesen, nicht etwa ein lebloses Ding.
“Wessen Grab ist das?”, fragte sie.
“Hier ruht die Ehefrau des bedeutendsten Gründers unserer Gesellschaft”, murmelte Jeremy. Dann las er seiner Tochter die Inschrift vor. “Margaux Niedermeier, 1779–1814. Auf ewig klinge ihr Gedenken in diesem klagenden Akkord.”
37. KAPITEL
M ontag, 28. April – 18:08 Uhr
“Passen Sie auf!”, mahnte der Kunde am anderen Ende der Telefonleitung nun schon zum dritten Mal – sehr zu Paul Pertzlers Unmut. Seit Auftragserteilung kommandierte der Kerl ihn herum, als hätte er es mit einem tollpatschigen Esel zu tun. Schließlich hatte er doch den Beethoven-Brief und die antike Spielekassette geklaut! Und da sollte er die Kostbarkeiten nicht mal anfassen dürfen? Er schwenkte die Kamera und richtete den Sucher von dem Kästchen weg auf eine leere Stelle an der Wand. Dabei achtete er peinlich darauf, dass er nichts Verräterisches übertrug.
“Bei mir ist das Bild weg.” Die Stimme am anderen Ende klang nach mühsam unterdrücktem Frust.
Pertzler lächelte in sich hinein und wartete.
“Sind Sie noch da? Ich sagte, ich kriege kein Bild mehr!”
Pertzler überlegte schon, ob er die Computerverbindung, über die er mit dem Käufer sprechen und ihm das Objekt zeigen konnte, nicht einfach kappen sollte.
“Was soll das?”, fragte die Stimme heftig.
Der Kunde mochte ja gutes Geld bieten, aber das gab ihm noch lange nicht das Recht, ausfallend zu werden.
“Wo ist die Kamera?”
Pertzler richtete die Linse wieder auf die Schatulle. “Der Computer hat sich aufgehängt, tut mir leid.”
“Die Außenseite reicht mir so; jetzt bitte mal von innen”, befahl der Kunde. “Wir müssen uns vergewissern, dass alles intakt ist. Geben Sie uns erst einmal einen Überblick.”
Pertzler schwenkte
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