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Der blinde Hellseher

Der blinde Hellseher

Titel: Der blinde Hellseher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Wolf
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Wem denn? Außerdem:
Das ist keine Mutprobe. Das ist Irrsinn! Kopfüber dort runter — und nichts wäre
von dir übriggeblieben. Bist du ein Dreijähriger oder 14? Ich verstehe dich
nicht.“
    „Ist doch auch egal.“ Volker
stand auf. Seine Bewegungen waren müde. Er machte auch wieder das muffelige, in
sich gekehrte Gesicht wie so oft in letzter Zeit. „Ich wär’ schon nicht
runtergepurzelt. Aber ich glaube, du hast recht. Blöd war’s trotzdem. Tust du
mir einen Gefallen?“
    „Was denn?“
    „Versprich, daß du’s machst!
Bitte!“
    „Wenn es nicht wieder sowas
Hirnverbranntes ist — gut, versprochen.“
    „Erzähl’ bitte niemandem davon!
Du weißt doch, wie das ist. Die denken dann, man hätte nicht alle. Niemandem!
Bitte! Weder Klößchen, noch Gaby, noch Karl! Und auch meinen Eltern nicht. Ja?“
    „Gut.“ Tarzan nickte.
    Volker streckte die Hand aus,
und Tarzan schlug ein. Damit war das Versprechen besiegelt.
    Als Volker dann ein
Kaugummipäckchen aus der Tasche holte, geriet ihm der Fotobon zwischen die
Finger.
    „Könntest du die abholen,
Tarzan? Es sind die Bilder von der Klassenparty. Wenn du zu Gaby fährst, kommst
du bei dem Foto-Geschäft vorbei. Für mich wäre es ein Riesenumweg. Morgen sind
sie fertig.“ Er wandte sich zu seinem Rad und murmelte: „Vielleicht sind noch
zwei andere Schnappschüsse drauf. Aber — ob die was geworden sind, weiß ich
nicht.“
    Tarzan, der mit seinen Gedanken
noch immer bei Volkers unbegreiflicher Mutprobe war, steckte den Zettel ein.
„Gemacht“, sagte er. „Ich hole die Fotos.“
     
     
     
     

2.
Vor 500 Jahren schon mal gelebt?
     
    Wieder nichts!
    Tarzan seufzte und starrte das
Lexikon an, als wäre es sein persönlicher Feind.
    Das war nun schon das fünfte,
in dem er nachsah. Aber nirgendwo stand, was er suchte.
    Mittagssonne schien zum Fenster
herein. Die Schulbibliothek war ein schmaler Raum. Regale, vollgestopft mit
Büchern, verdeckten die Wände. Hier roch es immer nach Staub, obwohl die
Raumpflegerinnen der Internatsschule bestimmt ordentlich putzten.
    Tarzan war allein. Deshalb
konnte er sich ungeniert in den Haaren kratzen. Als die Tür aufging, nahm er
die Hand vom Kopf.
    Dr. Meinert kam herein — mit fünf
Büchern unterm Arm und nachdenklich gekrauster Stirn. Nachdenklich war er
eigentlich immer. Daß er bei Rot über die Kreuzung lief, wunderte niemanden.
Wenn er heil drüben ankam, hatte er bestimmt wieder ein ,historisches Problem’
gelöst. Denn Geschichtslehrer war er mit Leib und Seele, und in Gedanken lebte
er nur in der Vergangenheit.
    „Na, Tarzan“, sagte er
freundlich. „Nicht in der Turnhalle? Holst du dir Lektüre? Nanu, gleich ein
ganzes Lexikon?“
    „Leider gibt’s keine Auskunft,
Herr Doktor.“
    „Soso. Fehlt eine Seite?“
    „Das nicht“, sagte Tarzan und
dachte: Ihn sollte ich fragen. Ist ja schließlich sein Fach!
    „Was willst du denn wissen?“
Meinert war an ein Regal getreten und stellte seine Bücher zurück.

    „Es ist was Geschichtliches,
Herr Doktor. Ich möchte gern alles wissen über Editha Eleonora von Brabant.“
    „Wie bitte?“ Meinert drehte
sich um und blinzelte wie eine Eule durch die dicken Gläser seiner Hornbrille.
„Wer soll denn das gewesen sein?“
    „So eine Art... naja, gehobener
Adel... Vielleicht so im Rang einer Fürstin.“
    „Tut mir leid, Tarzan. Von der
habe ich nie gehört. Eine historisch bedeutsame Persönlichkeit war das bestimmt
nicht. Wann soll sie gelebt haben?“
    „Vor ungefähr 500 Jahren.“
    „Aha! Sonderbar!“ Meinert legte
seine Stirn in gleichmäßige Waschbrettfalten. „Im 15. Jahrhundert kenne ich
mich gut aus. Wie bist du denn auf diese Editha Eleonora von Brabant gekommen?“
    „Gestern abend, Herr Doktor,
habe ich mich lange mit ihr unterhalten. Dabei...“
    „Wie bitte? Willst du mich auf
den Arm nehmen, du Schlingel?“
    Erschrocken sah Tarzan ihn an.
Dann ging ihm auf, was er gesagt hatte. Im ersten Moment wußte er nicht, wie
er’s erklären sollte. Aber eine Erklärung war nun unbedingt erforderlich.
    „Äh... Herr Doktor, ich meine:
Nicht mit der Fürstin direkt. Das heißt: Doch! Allerdings...“
    „Das muß ja eine recht betagte
Dame sein“, sagte Meinert lächelnd. „500jährige sind selten. Und noch dazu eine
Fürstin. Ich würde sie gern kennenlernen.“
    Verzweifelt knetete Tarzan sein
linkes Ohr. „Verstehen Sie das bitte so, Herr Doktor: Die damalige Editha
Eleonora von Brabant ist wiedergeboren. Jetzt heißt sie

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