Die Schattenflotte
Abschied
Sören fröstelte. Er vergrub seine Hände noch mehr in den Manteltaschen, obwohl er wusste, dass es nicht am Wetter lag. Am Morgen hatte das Thermometer bereits acht Grad angezeigt, und nun schimmerte die tief stehende Wintersonne durch den nebligen Wolkenteppich hindurch. Wie schon so häufig in den letzten Tagen wanderten seine Gedanken durch die Jahrzehnte zurück bis in seine Kindheit, aber er konnte sich nicht erinnern, jemals einen so milden Neujahrstag erlebt zu haben.
«War es ihr Wunsch?» Martin Hellwege legte seinem Freund behutsam die Hand auf die Schulter.
Sörens Blick folgte der sich kräuselnden Rauchfahne, die sich aus dem zinnenbekrönten Backsteinschlot ihren Weg in den Himmel bahnte, als wäre es ein Sinnbild der Jahre seines Daseins. Er spürte erneut einen Kloß im Hals. «Ja, sie war seit Jahren schon Mitglied in einem Verein für Feuerbestattungen. Wir haben die Unterlagen bei ihrer letzten Verfügung gefunden. Gesprochen hat sie nie darüber.» Sören schluckte. «Das ist … das war typisch für sie. So modern … Sie war ihrer Zeit immer einen Schritt voraus.»
Martin Hellwege nickte stumm.
«Man schiebt die Gedanken an den Tod doch gewöhnlich immer weit von sich. Nicht so bei ihr.»
«Mit zweiundachtzig wird sie anders darüber gedacht haben, Sören. Was für ein stolzes Alter! – Dein Vater istauch über achtzig geworden», fuhr er fort, als Sören nichts erwiderte. «So, wie es aussieht, wird auch dir ein langes Leben beschieden sein.»
Sören merkte, dass ihn sein Freund auf andere Gedanken bringen wollte. «Dem Verein ist sie schon vor über fünfzehn Jahren beigetreten, alles ist ganz akribisch festgelegt. Stell dir vor, selbst die Kosten für die Einäscherung, achtzig Mark, hatte sie längst beglichen. Dabei war sie wirklich alles andere als müde. Vor vier Tagen waren wir noch gemeinsam im Stadttheater. Es gab ‹Die lustigen Weiber von Windsor›. Du glaubst nicht, wie sie sich amüsiert hat. Und nun … Es scheint so endgültig.»
«Das ist es doch auch», entgegnete Martin.
«Ich meine das Verbrennen. Nichts bleibt …»
«Es ist dir unheimlich?»
Sören schaute seinen Freund an. «Irgendwie schon. Andererseits … Ich besitze genug Vorstellungskraft und Wissen, um mir den Verfallsprozess des menschlichen Körpers in einem Sarg in der Erde plastisch vor Augen zu führen. So betrachtet erscheinen mir die Flammen des Krematoriums geradezu erlösend.»
Sein Blick fiel auf das Gebäude vor ihnen. Ein Zentralbau aus rotem Backstein mit weiß verputzten Wandflächen und romanischen Bögen. In seiner Gestalt war es den Sakralbauten, wie sie etwa im nördlichen Italien zu finden waren, nicht unähnlich. Selbst die Form des freistehenden Campanile hatte man – allerdings zweckentfremdet – mit dem Schornstein aufgegriffen. Was für ein friedliches Ensemble für einen nüchternen Zweckbau. Genau genommen handelte es sich ja nur um einen Ofen mit einem angegliederten Andachtsraum. Sören überlegte kurz, warum man viele moderne Zweckbauten mit altertümlichen Formen verkleidete. Aber die Antworthatte er sich soeben selbst gegeben. Zumindest in diesem bestimmten Fall verliehen Erscheinung und Zierrat der Verbrennung etwas Würdevolles, milderten Beklemmung und Furcht, welche die Betrachter mit diesem Vorgang verbanden.
Am Eingang des kleinen Urnenfriedhofs hatte sich ein Teil der Trauergesellschaft zusammengefunden. Sören hatte viele der Anwesenden vor Beginn der Einäscherung nur schemenhaft wahrgenommen. Jetzt erst wurde ihm bewusst, wie viele Gäste mit Rang und Namen Clara Bischop die letzte Ehre erweisen wollten. Neben Justus Brinckmann und Alfred Lichtwark, der gemeinsam mit Martin gekommen war, entdeckte Sören Edmund Siemers und Senator von Melle. Keiner von ihnen machte ein Aufsehen um seine Person oder gesellschaftliche Stellung. Man versammelte sich hier zu Ehren von Sörens Mutter, die bis zuletzt Mitglied in zahlreichen kulturellen und wissenschaftlichen Fördervereinen der Stadt gewesen war. Sie hatte sich stets eingemischt, ihre Aktivitäten waren deutlich über die Teilnahme an Kaffeekränzchen hinausgegangen. Auch politisch. Nur wenige Schritte abseits stand eine kleine Gruppe von Mitgliedern der Partei, die Sörens Eltern im Stillen unterstützt hatten. Unter ihnen entdeckte Sören auch Otto Stolten. Die anderen Gäste mussten ihn ebenfalls erkannt haben, aber erstaunlicherweise hielten sich selbst die Damen der Gesellschaft
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