Der Blinde von Sevilla
vormachen, dass es heiß in dem Zimmer war, dass der Kaffee, den er eben getrunken hatte … Er hatte keinen Kaffee getrunken.
Das Gesicht.
Für einen Toten war es ein Gesicht von enormer Präsenz. Wie El Grecos Heilige, deren Augen einen überallhin verfolgten.
Folgten diese Augen ihm auch?
Falcón ging erst auf die eine, dann auf die andere Seite des Zimmers. Tatsächlich. Absurd. Streiche, die einem die eigene Wahrnehmung spielt. Er riss sich zusammen, ballte eine Latexfaust.
Er stieg über die straff gespannten Kabel von Fernseher und Videorekorder, trat hinter den Stuhl des Toten und blickte zur Decke, bevor er auf Raúl Jiménez’ stahlwolleartiges Haar hinuntersah, das am Hinterkopf, den der Tote wiederholt gegen das geschnitzte Wappen in der Rückenlehne geschlagen hatte, schwarz-rot verklebt war. Der Kopf war immer noch mit einem Kabel an den Stuhl gefesselt, das ursprünglich sehr stramm gewesen sein musste. Jiménez hatte sich offenbar ein wenig Spielraum erkämpft. Dabei hatte das Kabel sich tief in das knorpelige Gewebe der Nasenscheidewand geschnitten, stellenweise sogar bis direkt ans Nasenbein, sodass die Nase lose im Gesicht hing. Auch die Haut über den Wangenknochen war zerfetzt worden, als er den Kopf hin und her geworfen hatte.
Falcón wandte sich vom Profil des Toten ab und starrte frontal auf den leeren Bildschirm des Fernsehers. Er blinzelte und wollte die starren Augen schließen, die ihn selbst als Spiegelbild noch mit ihren Blicken durchbohrten. Sein Magen wurde flau bei dem Gedanken, was für Schreckensbilder diesen Menschen dazu gebracht hatten, sich selbst so etwas anzutun. Waren sie immer noch da, auf die Netzhaut oder in einer Art digitalisiertem Zustand tief ins Gehirn gebrannt?
Er schüttelte den Kopf, weil er es nicht gewohnt war, dass ihn derart wilde Gedanken in seinen nüchternen Ermittlungen störten. Dann ging er um den Stuhl herum, um das blutverschmierte Gesicht so gut es ging von vorn zu betrachten, wobei ihm der TV-Wagen an den Knien des Mannes im Weg war. Und in diesem Augenblick sah sich Javier Falcón auch mit seinem ersten körperlichen Aussetzer konfrontiert. Er konnte seine Knie nicht beugen. Keine der üblichen motorischen Botschaften drang weiter vor als bis zu seiner von Panik zugeschnürten Brust und seinem aufgewühlten Magen. Er tat, was der Juez de Guardia ihm geraten hatte, versuchte, sich zu fassen, sah aus dem Fenster. Bemerkte, wie strahlend hell dieser Aprilmorgen war, und erinnerte sich an die Ruhelosigkeit, mit der er sich hinter der Dunkelheit geschlossener Läden angekleidet hatte, das Unbehagen nach einem langen einsamen Winter mit zu viel Regen. So viel Regen, dass sogar ihm aufgefallen war, wie die Parks der Stadt zu veritablen Dschungeln von verschwenderischer botanischer Vielfalt gewuchert waren. Er blickte auf das Feria-Gelände, auf dem in zwei Wochen ein zweites Sevilla aus Festzelten entstehen würde, wo sieben Tage lang gegessen, Fino getrunken und bis zum Morgengrauen Sevillanas getanzt werden würden. Er atmete tief ein und beugte sich über Raúl Jiménez’ Gesicht.
Das grausame Starren rührte daher, dass die Augäpfel des Mannes aus seinem Kopf quollen, als hätte er ein Schilddrüsenleiden. Falcón warf einen Blick auf die Fotos an der Wand. Auf keinem wirkte Jiménez glubschäugig. Es lag daran, dass … Seine Synapsen stauchten sich wie zwei Autos in einem Auffahrunfall. Der sichtbare Augapfel, das auf den Wangen getrocknete und am Kinn geronnene Blut. Und was waren diese zarten Schnipsel auf Raúls Hemd? Vier Blütenblätter, prachtvoll, exotisch und fleischig wie Orchideen mit feinen Fasern, fast wie Fliegenfänger. Aber Blütenblätter … hier?
Seine Füße suchten vergeblich Halt an der Teppichkante und auf dem Parkett, als er nach hinten taumelte, über das Fernsehkabel stolperte und den Stecker aus der Wand riss. Auf Händen und Füßen krabbelte er rückwärts, bis er die Wand in seinem Rücken spürte und sich, mit gespreizten Beinen, zuckenden Schenkeln und zitternden Füßen, anlehnte.
Augenlider. Zwei obere, zwei untere. Nichts hätte ihn darauf vorbereiten können.
»Alles in Ordnung, Inspector Jefe?«
»Sind Sie das, Inspector Ramírez?«, fragte er und richtete sich langsam und unsicher auf.
»Die Policía Científica steht zur Spurensicherung bereit.«
»Schicken Sie mir den Médico Forense vorbei.«
Ramírez verschwand aus dem Türrahmen, und Falcón sammelte sich. Der Gerichtsmediziner
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