Das System
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|10| 1.
Internationale Raumstation ISS,
Mittwoch 14:58 Uhr
Das schrille Pulsieren der Sirene gellte durch die Station. Der Ton signalisierte die zweithöchste Alarmstufe: einen schwerwiegenden
Systemausfall, der einen sofortigen menschlichen Eingriff erforderlich machte.
Andrea Cantoni zuckte zusammen. Nicht schon wieder! Der Kugelschreiber, mit dem er gerade den aktuellen Zustand seiner Hefepilz-Kolonien
notierte, glitt ihm aus der Hand. In einer langsamen Kreiselbewegung schwebte er davon. Cantoni griff hastig danach, versetzte
dem Stift aber nur einen Stoß, so dass er umso schneller rotierte und wie eine taumelnde Minirakete davonjagte, gegen einen
der Laptops prallte, die an der Wand des Labors befestigt waren, und irgendwo im Chaos aus Apparaturen, experimentellem Material,
Werkzeug und Plastikschläuchen verschwand.
Zum Teufel mit dem Kugelschreiber. Es war bereits der dritte, den er an Bord der Internationalen Raumstation verloren hatte,
aber Kulis waren eines der wenigen Dinge, von denen hier kein Mangel herrschte. Cantoni hatte immer geglaubt, normale Kugelschreiber
könnten in der Schwerelosigkeit nicht funktionieren, und eines dieser teuren, druckbetriebenen Schreibgeräte mit an Bord genommen.
Juri Orlov, der russische Kommandant der Station, hatte nur gelächelt und ihm eine billige Plastikvariante mit dem Werbeaufdruck
einer russischen Fluggesellschaft in die Hand gedrückt, die tatsächlich tadellos schrieb. Das war vor einhundertvier Tagen
gewesen. Bei Gott, er war schon viel zu lange hier!
Er stieß sich mit den Händen vorsichtig ab und versuchte, mit der Eleganz eines Fisches durch den Raum zu schwimmen, aber
in all der Zeit hatte er es nicht geschafft, jene fließenden |11| Bewegungen zu erlernen, mit denen sich Orlov in weniger als zwanzig Sekunden von einem Ende der fünfzig Meter langen Station
zum anderen begeben konnte, ohne auch nur eines der engen Schotts zu berühren. Er stieß sich die Schulter an dem engen Durchlass,
der vom Destiny-Labor in das Unity-Verbindungselement führte. Dann zog er sich durch das Zarya-Modul, das früher einmal das
Herz der Station gewesen war, heute jedoch hauptsächlich als Lagerraum benutzt wurde. Es war so vollgestopft mit allen möglichen
Dingen, die man zum Leben und Arbeiten an Bord brauchte, dass man sich darin vorkam wie in einem fliegenden Besenschrank.
Endlich erreichte er Zvezda. Der etwa zehn Meter lange und im Durchmesser drei Meter breite Raum war genauso angefüllt mit
elektronischem Gerät und durch Klettband befestigten Utensilien wie der Rest der Station. Nur mit Hilfe des Computers war
es noch möglich, die Position der mehr als zehntausend Gegenstände an Bord zu bestimmen.
Orlov war nicht da. Sein Schlafsack, befestigt an der Decke des Wohnmoduls, war leer. Verblüfft sah Cantoni sich um, bevor
ihm klar wurde, dass der Russe gerade auf der Toilette sein musste, dem einzigen Ort, an dem man so etwas wie eine Privatsphäre
hatte.
Sein Blick fiel auf den Bildschirm des Zentralcomputers. »System overload« stand dort. Eine Fehlermeldung, die er noch nie
gesehen hatte. Er konnte sich auch nicht erinnern, dass sie jemals beim technischen Training erwähnt worden wäre. Er zog sich
zu der Schaltkonsole herab und deaktivierte den blinkenden Alarmknopf. Die Sirene verstummte, aber dafür signalisierte ein
mehrstimmiges Piepen, dass Mission Control dringend mit der Besatzung sprechen wollte.
Cantoni wollte gerade den Telefonhörer neben dem Schaltpult aufnehmen, als ein schlürfendes Geräusch ertönte. Kurz darauf
öffnete sich die Tür zu der kleinen Toilettenkabine, und Orlov schwebte zu ihm. Sein zerzaustes schwarzes Haar |12| stand in alle Richtungen ab und verlieh ihm einen wilden Ausdruck.
»Was hast du gemacht?«, fragte er mit schwerem Akzent. Seine braunen Augen unter den dicken Brauen funkelten böse.
»Gar nichts habe ich gemacht!«, antwortete Cantoni, eine Spur zu defensiv. Er mochte den grobschlächtigen Russen mit seiner
oft unflätigen Art nicht besonders.
Orlov sagte nichts. Er ignorierte das Piepen der Kommunikationsleitungen, schubste Cantoni grob zur Seite, so dass dieser
gegen den Klapptisch an der Wand stieß, und machte sich an der Tastatur des Computers zu schaffen. Unter einem Schwall russischer
Flüche versuchte er vergeblich, die Fehlermeldung zum Verschwinden zu bringen und in das Hauptmenü zu kommen. Endlich gab
er auf und nahm den Hörer
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