Der Blutkönig: Roman (German Edition)
tief in Gedanken. Oder vielleicht, meinte Tris nachdenklich, dachte jeder von ihnen daran, wie nah wohl ihre Gastgeber ihnen jetzt waren, und wie gut die Untoten hören konnten. Er war sicher, dass jeder von ihnen den Schlaf verdrängte, solange ihre erschöpften Körper wach bleiben konnten.
Er wusste, dass sein eigenes Schlafbedürfnis würde warten müssen. Hier zwischen den Knochen der Toten drängten sich die ruhelosen Geister eng um ihn, so viele, dass er überrascht war, dass seine Gefährten sie nicht sehen konnten. Er konnte ihrem Flehen nach Vermittlung und Erlösung nicht widerstehen. Also arbeitete er, bis sein Kopf schmerzte und er nicht länger wach bleiben konnte.
Auch seine Gefährten warteten, bis endlich die Müdigkeit über die Furcht siegte. Carroway übernahm die erste Wache. »Schlaf mit einem offenen Auge, ja?«, witzelte Kiara nervös.
»Ich glaube nicht, dass du dir darüber Sorgen machen musst«, versicherte Tris und sah die Unbehaglichkeit in ihren Augen, als er sie auf die Stirn küsste. Von dem Moment an, seit sie die Tempelruine betreten hatten, hatte das Wispern der Toten seinen Verstand gestreift, wie eine leise Konversation, die gerade jenseits des Gehörs lag. Die Präsenz der gespenstischen Zuschauer würde ihn wahrscheinlich die ganze Nacht von erholsamem Schlaf abhalten, selbst, wenn er die Erinnerungen der ermordeten Dorfbewohner aus seinen Gedanken hätte tilgen können.
Kiara und Carina verschwanden in ihrer Krypta und Carroway nahm seinen Posten an der Tür ein. In diesem Moment erschien Riqua in den Schatten des Ganges. »Ich sehe, dass Ihr Euch noch nicht zur Ruhe begeben habt«, sagte sie zu Tris.
»Vergebt mir, aber es klingt ein wenig bedrohlich, wenn man bedenkt, wo wir uns befinden«, antwortete Tris mit einem dünnen Lächeln.
»Kommt mit mir, Prinz Drayke. Ich habe etwas für Euch, ein Geschenk von Bava K’aa.«
Tris wechselte einen Blick mit Vahanian. »Schlaf ein bisschen, Jonmarc. Du brauchst es mehr als jeder von uns.«
»Ich schlafe in Krypten nicht gut«, meinte Vahanian. »Und ich habe mir geschworen, dafür zu sorgen, dass dein königlicher Hintern in einem Stück bleibt. Wenn es dir also recht ist, dann gehe ich dahin, wo du hingehst.«
»Wie Ihr wünscht«, erwiderte Riqua. Sie führte sie durch ein Labyrinth von Gängen. Tris rief Feuer in seine Hand, um den Weg zu erhellen und Vahanian trug eine Fackel aus ihrer Krypta. Beides ließ die Dunkelheit der Gruft etwas weniger dick erscheinen. Sie folgten Riqua zu einem älteren Teil der Nekropole, wo Staub und der Geruch des Todes die Luft durchdrangen.
Riqua hielt an der Wand eines Mausoleums, wo die Toten in Steinnischen hinter kompliziert gravierten Felsplatten lagen, die ihr Bildnis und die wichtigsten Daten ihres Lebens trugen. Vahanian blieb ein Stück zurück und bewachte den Eingang zum Korridor. Riqua bewegte eine der unauffälligeren Platten und öffnete ohne Anstrengung eine schwere Lade, die drei Männer kaum hätten schließen können. Sie griff unbeeindruckt von dem dort liegenden Leichnam hinein. Aus dem Körper zog sie ein schmales, dünnes Buch.
Tris spürte, wie sein Herz schneller schlug, als er den Einband erkannte.
»Weißt du, was das ist, Herr Seelenrufer?«, fragte Riqua und übergab ihm den schmalen Band, in dem ein dicker, gelber Umschlag als Lesezeichen fungierte.
»Das ist das verlorene Tagebuch des Obsidiankönigs.«
Riqua ließ ein kurzes, grelles Lachen hören. »Verloren? Ist es das, was dir die Schwesternschaft gesagt hat? Es war nie verloren. Bava K’aa hat es mir gegeben, vor Jahren, um es sicher zu verwahren. Weißt du auch, warum? Warum sie sich dazu entschloss, den Ort geheimzuhalten, sogar vor der Schwesternschaft?«
»Weil es etwas so Mächtiges enthält, mit so einem großen Potenzial, es zu missbrauchen, dass sie es niemandem anders anvertrauen konnte.«
»Weil es ein Geheimnis von Leben und Tod enthält«, sagte Riqua. »Es ist an der Zeit, dass du die ganze Geschichte deiner Großmutter hörst und warum ihre Liebe die Winterkönigreiche fast ihre Freiheit gekostet haben. Aber zuerst nimm dir den Umschlag vor und die Seite, die er markiert. Du hältst etwas in der Hand, das wertvoller ist als die Reichtümer von Königen und die größten Kriegseroberungen. Sag mir, was auf dieser Seite geschrieben steht – und beachte, dass du die Worte nicht laut aussprechen darfst.«
Tris überflog die vergilbte Handschrift. Seine Hände begannen zu zittern, als
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