Das Glücksprojekt
Einleitung
Dies ist kein Glücksratgeber. Ratgeber bringen überhaupt nichts, glauben Sie mir, ich habe viele davon. Manche habe ich auch gelesen. Wenn es nach meinem Bücherregal ginge, wäre ich schon längst schlank im Schlaf geworden, ich wäre die perfekte Liebhaberin und ein Kommunikationsprofi, ich wüsste Wege in die Entspannung, es wäre egal, wen ich heirate, denn ich würde mich selbst lieben, und ich würde mich nicht sorgen, sondern leben.
Dies ist ein Erfahrungsbericht. Ich habe mich auf den Weg gemacht und es tatsächlich versucht: das Glück zu finden. Schritt für Schritt. Wie ich auf dieses schmale Brett gekommen bin? Ich hatte da mal einen lichten Augenblick …
Manchmal hat man die größten Lichtblicke in den blödesten Momenten. Eine ganz wichtige Erkenntnis kam mir zum Beispiel, als ich spätnachts vor meiner Toilette kniete und kotzte, was das Zeug hielt. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich mit L. die Liebe meines Lebens getroffen hatte. Die Liebe meines Lebens kniete dabei neben mir und reichte mir Klopapier. Zugegeben, das war nicht exakt die Situation, die ich mir für so eine Erkenntnis vorgestellt hatte. In meiner Fantasie spielten eine sternenklare Sommernacht, ein Vollmond und eine Laube im Park die tragenden Rollen – und nicht eine Porzellanschüssel von Ideal Standard mit lila Kloumpüschelung. Außerdem sollte ich zu dieser Gelegenheit ein traumhaftes Kleid tragen und meine Blahniks, die ich dann ausziehen könnte, wenn wir ›total verrückt‹ in den nächsten Springbrunnen stiegen. L. würde mich verliebt ansehen und mir eine Strähne meines fluffigen, aber kraftvollen Haars aus dem Gesicht streifen. In der Realität sah mich L. verliebt an, während er mir den Pferdeschwanz hielt, damit der nicht ins Klo hing. Auch romantisch, aber anders.
Meiner Freundin Jana dämmerte während eines Einkaufs im Supermarkt, dass ihr Markus, der gerade verzweifelt versuchte, eine von diesen Obst- und Gemüsetüten aus dem Spender auseinanderzufalten, der Mann ihres Lebens war. Was folgte, war eine rührende Szene vor dem Kopfsalat. Auch Jana hatte sich diesen Moment anders vorgestellt. »Mit weniger Obst und Gemüse im Hintergrund«, sagt sie. Kurzum: Erkenntnisse kommen, wann sie wollen. Wie Pickel.
Das war bei der folgenden Erkenntnis nicht anders. Es war wieder so weit. Ich besuchte meine Oma im Altenheim. Sie ist die beste Oma der Welt. Sie ist klein und zart, wie ein Vogel, der aus dem Nest gefallen ist. Wenn ich sie drücke, bin ich sehr vorsichtig, um ihr nicht aus Versehen das Rückgrat zu brechen. Sie freut sich sehr über meine Besuche und bereitet immer einen Kaffeetisch vor. Es muss sie viel Zeit und Kraft kosten, den Tisch zu decken und Kaffee zu kochen, aber wenn ich ihr am Ende meines Besuchs helfen will, wieder abzuräumen, lässt sie mich nicht. »So kann ich deinen Besuch noch ein bisschen nachschmecken«, sagt sie, und dann kullern ihr ein paar Tränchen aus den Augen, weil ich gehe, und mir kullern ein paar Tränchen aus den Augen, weil die Oma heult. So laufen meine Besuche normalerweise ab.
Als wir dieses Mal auf dem Oma-Sofa sitzen, sagt sie plötzlich: »Weißt du, Kind, ich habe heute in den Spiegel geschaut und ich sehe aus wie eine alte Frau.« (Sie ist 83.) Und noch bevor ich altklug darauf hinweisen kann, dass das in diesem Alter gar nicht so unwahrscheinlich ist, sagt sie: »Aber ich fühle mich gar nicht anders als früher! Ich fühle mich nicht alt.« Und dann sagt sie noch: »Nütz’ die Zeit, sie geht so schnell vorbei.«
Als ich mich verabschiede und nach unserem Traditionsheulerchen mit der Tram nach Hause fahre, kommt sie, die Erkenntnis. In der Tram, während sich im Gang neben mir ein paar Halbstarke Halbsätze zubrüllen, die alle mit »Ey« anfangen, ist sie plötzlich da. Sie kennen doch auch diesen Satz aus Kindertagen: »Wenn ich mal groß bin …« Das impliziert irgendwie die Vorstellung, es gäbe einen gewissen Zeitpunkt, ab dem alles anders ist. Man wäre irgendwann jemand anderes, jemand Großes, jemand, der sich so viel Gummibärchen kaufen kann, wie er will, und auch über die Bettgehzeit selbst entscheiden darf. So groß! Meine Vorstellung davon, wann genau es so weit sein würde, war als Fünfjährige verschwommen. Vielleicht, wenn ich endlich in die Schule käme. Aber nein. Es stellte sich heraus, dass man noch nicht groß war, wenn man statt einem Kindergartenkind ein Schulkind war, obwohl einem im Kindergarten die Schulkinder
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