Der Chancellor
Uhr meldete der auslugende Matrose: Land in Sicht im Nordosten! Noch ist dasselbe freilich nur wie eine Dunstschicht sichtbar.
Um sechs Uhr begab ich mich mit den beiden Herren Letourneur auf das Verdeck, und wir betrachteten die im Allgemeinen sehr flachen Bermuden-Inseln, welche eine Kette gefährlicher Riffe umschließt.
»Da liegt also der reizende Archipel, beginnt André Letourneur, die pittoreske Gruppe, welche Ihr heimatlicher Dichter, Thomas Moore, in seinen Oden gepriesen hat! Schon im Jahre 1643 lieferteder verbannte Walter eine enthusiastische Beschreibung derselben, und wenn ich nicht irre, wollten englische Damen eine Zeit lang keine anderen Hüte tragen, als solche, die aus gewissen Blättern einer bermudischen Palme geflochten waren.
– Sie haben recht, lieber Andrè, antwortete ich, der Bermuden-Archipel war im siebenzehnten Jahrhundert sehr in Mode; jetzt ist er indessen ganz in Vergessenheit gerathen.
– Uebrigens, Herr Andrè, sagte da Robert Kurtis, die Dichter, welche mit Enthusiasmus von diesem Archipel sprechen, stimmen mit den Seeleuten keineswegs überein; denn das Land, dessen Anblick so verführerisch erscheint, ist zu Schiffe sehr schwierig zu erreichen, und der Klippengürtel, der sich halbkreisförmig in der Entfernung von zwei bis drei Stunden um dasselbe zieht, wird von den Seefahrern mit Recht gefürchtet. Was die ewige Heiterkeit des Himmels betrifft, die von den Bewohnern der Bermuden so gern hervorgehoben wird, so unterbrechen dieselbe ziemlich häufig gerade die heftigsten Stürme. Ueber diese Inseln rasen die Ausläufer der Wirbelstürme, die in den Antillen oft so viel Unheil anrichten, ja, und eben jene Ausläufer sind, ebenso wie der Schweif des Walfisches, am meisten zu fürchten. Ich für meinen Theil möchte aber Seefahrern auf dem Atlantischen Oceane nicht rathen, den Berichten eines Walter oder Thomas Moore zu viel Glauben beizumessen.
– Herr Kurtis, hebt da lächelnd Andrè Letourneur an, Sie mögen wohl recht haben. Die Dichter gleichen häufig den Sprichwörtern, das eine widerspricht immer dem anderen. Hat Thomas Moore und Walter diesen Archipel als einen wundervollenAufenthalt gepriesen, so hat dagegen der größte Ihrer Dichter, Shakespeare, der ihn ohne Zweifel besser kannte, die schrecklichsten Scenen seines »Sturmes« dahin verlegen zu sollen geglaubt.«
In der That sind die Umgebungen des Bermuden-Archipels eine sehr gefährliche Gegend. Die Engländer, denen die Inselgruppe seit ihrer Entdeckung gehört, benutzen sie nur als einen zwischen den Antillen und Neu-Schottland eingeschobenen Militärposten.
Uebrigens scheint jener, und zwar in großem Maßstabe, zu wachsen bestimmt. Mit der Zeit – dem Principe, dem die größten Schöpfungen der Natur ihre Entstehung verdanken – dürfte dieser Archipel, der jetzt schon über hundertundfünfzig Inseln zählt, deren eine noch weit größere Menge aufweisen, denn unablässig sind die Sternkorallen thätig, neue Bermuden aufzubauen, die sich nach und nach unter einander verbinden, und wohl einen neuen Kontinent zu bilden berufen sind.
Weder die drei anderen Passagiere, noch Mrs. Kear haben sich die Mühe genommen, das Verdeck zu besteigen, um den merkwürdigen Archipel zu betrachten. Was Miß Herbey angeht, so war diese nur auf dem Oberdeck erschienen, als sich schon die näselnde Stimme der Mrs. Kear vernehmen ließ und das junge Mädchen wieder neben ihrer launischen Herrin Platz zu nehmen nöthigte.
VI.
Vom 8. bis 13. Oktober. – Der Wind weht mit einer gewissen Heftigkeit aus Nordosten, und der Chancellor hat mit gerefften Marssegeln und den Focksegeln beilegen müssen.
Die See geht hoch, und das Schiff arbeitet schwer. Die Zwischenwände der Cabinen seufzen mit einem nervenerschütternden Geräusche. Die Passagiere halten sich in der Hauptsache unter dem Deck auf.
Ich allein ziehe es vor, auf dem Verdeck zu bleiben. Aus der »frischen Brise« ist die Bewegung der Luftschichten in die der »scharfen Windstöße« übergegangen. Die Bramstangen sind herabgelassen. Der Wind legt jetzt in der Stunde fünfzig bis sechzig Meilen (d. h. gegen dreißig Meter in der Secunde) zurück. Seit zwei Tagen fahren wir so dicht als möglich am Winde. Trotz der guten Eigenschaften des Chancellor weicht das Schiff merklich ab und treiben wir mehr nach Süden. Der durch Wolken verdunkelte Himmel gestattet keine Aufnahme der Sonnenhöhe, und da man die Lage des Schiffes demnach nicht zu bestimmen vermag, so muß
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