Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
verteidigen? Du wirst noch nicht einmal versuchen, mit mir zu kämpfen?«, fragte Kotaro.
»Wenn ich versuche, mit dir zu kämpfen, dann werde ich dich beinah mit Sicherheit töten. Ich glaube, das wissen wir beide.« Isamu lachte. In all den Jahren, in denen er und Kotaro miteinander gewetteifert hatten, war er sich nie einer solchen Macht über den anderen bewusst gewesen. Er streckte weit die Arme aus, seine Brust war frei und ungeschützt. Er lachte immer noch, als das Messer in sein Herz drang; der Schmerz durchströmte ihn, der Himmel verdunkelte sich, seine Lippen formten dieWorte des Abschieds. Er trat die Reise an, auf die er zu seiner Zeit so viele andere geschickt hatte. Sein letzter Gedanke galt seiner Frau und ihrem Körper, in dem er â auch wenn er es nicht wusste â einen Teil von sich hinterlassen hatte.
KAPITEL 2Â
Das waren die Jahre, in denen der Kriegsherr Iida Sadayoshi, der so viele Stammesangehörige einschlieÃlich Kikuta Kotaro beschäftigte, den Osten der Drei Länder zu einen suchte und weniger bedeutende Familien und Clans zwang, sich dem dreifachen Eichenblatt der Tohan zu unterwerfen. Das Mittlere Land hatte seit Jahrhunderten den Otori gehört und der gegenwärtige Führer des Clans, Lord Shigemori, hatte zwei junge Söhne, Shigeru und Takeshi, sowie zwei unzufriedene und ehrgeizige Halbbrüder, Shoichi und Masahiro.
Im Jahr von Takeshis Geburt war Lady Otori zweiunddreiÃig geworden; viele Frauen hielten in diesem Alter bereits ihre Enkel im Arm. Sie war mit Shigemori verheiratet worden, als sie siebzehn war und er fünfundzwanzig. Fast sofort hatte sie ein Kind empfangen und groÃe Hoffnung auf eine rasche Sicherung der Erbfolge ausgelöst, doch das Kind, ein Junge, wurde tot geboren, und das nächste, ein Mädchen, lebte nur wenige Stunden nach der Geburt. Mehrere Fehlgeburten folgten, alle diese sogenannten Wasserkinder wurden der Obhut von Jizo anvertraut. Anscheinend war ihr Leib zu schwach, um ein Kind bis zuletzt auszutragen. Ãrzte, dann Priester wurden konsultiert, schlieÃlich zog man einen Schamanen aus den Bergen hinzu. Die Ãrzte verschrieben Nahrung, die den Leib stärken sollte: klebrigen Reis, Eier und vergorene Sojabohnen; sie rieten davon ab, Aal oder irgendeinen anderen Fisch zu essen, und brauten Tees, die beruhigend wirkten. Die Priester sangen Gebete und füllten das Haus mit Weihrauch und Talismanen von fernen Schreinen. Der Schamane band eine Strohschnur um Lady Otoris Bauch und verbot ihr, die Farbe Rot anzuschauen, damit sie in ihrem Leib nicht wieder den Wunsch zu bluten weckte. Lord Shigemoris älteste Gefolgsleute empfahlen ihm insgeheim, sich eine Konkubine â oder mehrere â zu nehmen, doch seine Halbbrüder Shoichi und Masahiro waren gegen diese Idee und machten geltend, dass bei den Otori die Erbfolge immer an legitime Nachfolger gegangen sei. Andere Clans mochten ihre Angelegenheiten anders regeln, doch die Otori stammten schlieÃlich von der kaiserlichen Familie ab und ein illegitimer Erbe würde sicher den Kaiser beleidigen. Das Kind könnte natürlich adoptiert und damit legitimiert werden, doch Shoichi und Masahiro fühlten sich ihrem älteren Bruder so wenig verbunden, dass sie ihre eigenen Vorstellungen über das Erbe hatten.
Chiyo, die älteste Dienerin in Lady Otoris Haushalt, ihre einstige Amme, die sie aufgezogen hatte, ging heimlich in die Berge zu einem Schrein, der Kannon gewidmet war. Sie brachte einen Talisman zurück, der, aus Pferdehaar und Papierstreifen gewoben, nicht mehr als eine Spinnwebe wog und einen Zauberspruch barg, den sie in den Saum des Nachtgewands ihrer Herrin stickte, ohne jemandem etwas davon zu erzählen. Als das Kind empfangen war, sorgte Chiyo dafür, dass ihre eigenenRegeln für eine sichere Schwangerschaft befolgt wurden: Ruhe, gute Ernährung und keinerlei Aufregung, keine Ãrzte, Priester oder Schamanen. Lady Otori war niedergeschlagen wegen ihrer vielen Fehlgeburten und hatte wenig Hoffnung für das Leben dieses Kindes â eigentlich wagte kaum jemand, auf einen lebendigen Säugling zu hoffen. Als dann ein Junge geboren wurde, noch dazu mit allen Anzeichen von Ãberlebenskraft, zeigte sich Lord Shigemori überglücklich und erleichtert. Lady Otori war überzeugt, dass das Kind nur zur Welt gekommen war, um ihr wieder genommen zu werden, und konnte es nicht stillen.
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