MYSTERIA - Das Tor des Feuers (German Edition)
PROLOG
DAS NEBELTOR
D unkelheit hatte sich über das Land gesenkt. Dickbauchige Wolken zogen wie die schwer beladenen Schiffe einer Geisterflotte über den nächtlichen Himmel und gossen ihre Regenlast auf die fast unabsehbar weite Hochebene. Ein eisiger Wind heulte und peitschte die dicken Wasserschnüre wütend vor sich her. Wetterleuchten erhellte eine schroffe Hügelkette, die am fernen Horizont gerade noch zu erkennen war. Dumpf und drohend grollte der Donner darüber.
Die Frau schien all das nicht einmal zu bemerken. In einen einfachen Umhang gehüllt, der schwer und schwarz war vom Regen, stürmte sie durch die Nacht, als wäre eine Legion von Dämonen hinter ihr her. Ihr halblanges Haar klebte wie ein nasses Tuch an ihrem Kopf. Furcht verzerrte ihr schmales, blasses Gesicht. Ihre mädchenhaften Züge verrieten, dass sie noch recht jung sein musste: Fünfundzwanzig Sommer hatte sie höchstens erlebt, wenn nicht sogar weniger. Während sie wie ein gehetztes Tier dahinjagte, suchte ihr flackernder Blick das kniehohe Gras, das das Ödland bedeckte, nach Hindernissen ab. Nicht auszudenken, wenn sie jetzt straucheln und zu Fall kommen würde!
Mit einem Mal flog ihr Kopf ruckartig herum. Die blauen Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, spähte sie ängstlich über die Schulter, um nach Verfolgern Ausschau zu halten. In der Düsternis, die sich hinter ihr ausbreitete, war jedoch niemand zu erkennen - weder Berittene, die Jagd auf sie machten, noch andere gefährliche Wesen. Als selbst aus weiter Ferne keinerlei verdächtige Geräusche an ihr Ohr drangen, verharrte sie und rang keuchend nach Atem. Wie eine Ertrinkende schnappte sie nach der feuchten Nachtluft - so lange, bis ihr jagender Puls sich ein wenig beruhigte. Das hämmernde Pochen in ihrer Brust wurde regelmäßiger und leiser, bis es fast gänzlich verebbte. Die Andeutung eines Lächelns huschte nun um ihre Lippen, während ihr Blick das unförmige Bündel suchte, das sie mit beiden Händen so fest an sich gedrückt hielt, als sei es ein kostbarer Schatz. Schon im nächsten Moment aber schreckte die junge Frau erneut zusammen. Panik durchzuckte ihr regennasses Gesicht, und sprunghaft hastete sie weiter, schneller und gehetzter noch als zuvor.
Der Regen wurde stärker, das Grollen des Donners bedrohlicher und das Leuchten am Himmel kam ständig näher. Die Flüchtende verschwendete keinen Blick an die unverkennbaren Zeichen der Elemente. Das in Leinentücher gehüllte Bündel fest an sich gepresst, stürmte sie die kleine Anhöhe hinauf, die sich vor ihr erhob. Nur wenige Augenblicke später war sie auf dem höchsten Punkt der Kuppe angekommen. Erneut machte sie halt und spähte hinunter in die regenverschleierte Senke.
Nichts.
Es war absolut nichts zu sehen.
Die Frau schluckte. Ihre Augen flackerten beunruhigt. Kein Wort kam über ihre vor Kälte zitternden Lippen, doch ihre Miene verriet, was sie bewegte: Hatte sie sich verirrt? War sie vom richtigen Weg abgekommen - vom einzigen, der Rettung versprach? Dabei hatte sie den geheimen Pfad, der zum Nebeltor führte, schon häufig beschritten. Auch Nelwyn hatte ihn ihr noch einmal eindringlich beschrieben, als er sie vor wenigen Stunden zur hastigen Flucht gedrängt hatte. Den Meuchlern sollte sie entkommen - Dhrago, diesem feigen Verräter, und Rhogarr von Khelm, dem ruchlosen Herrscher der Marschmark! Sie hatte die Anweisungen des Königs peinlich genau befolgt und bislang auch alle vertrauten Wegzeichen passiert. Warum also war noch immer nicht die geringste Spur vom Nebeltor zu erkennen?
Verzweiflung überwältigte die junge Frau, spülte urplötzlich in ihr empor wie eine mächtige schwarze Woge. Was, wenn sie das Tor niemals mehr finden würde? Wenn es sich auf ewig vor ihr verschlossen hätte? Doch gerade als diese dunklen Gedanken sie angriffen wie eine messerscharfe Waffe, erblickte die Frau ein geheimnisvolles Leuchten am jenseitigen Rand der vor ihr liegenden Senke. Eine Wolke zeichnete sich dort im strömenden Regen ab - blaugrau schimmernd, mit fließenden Konturen - das Nebeltor!
Die Züge der jungen Frau entspannten sich, ein Leuchten erhellte ihre Augen. Ihr Mund verzog sich zu einem schüchternen Lächeln, während sie sich nach vorne über das Bündel beugte. Ihre Lippen formten beruhigende Worte. »Gleich haben wir es geschafft, mein Liebling«, flüsterte sie sanft. »Gleich sind wir in Sicherheit und niemand kann uns mehr etwas
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