Der Clan der Wildkatzen
die Ohren an. Beraal gefiel der Gedanke nicht, ein fremdes Haus zu betreten, in dem Großfüße wohnten. Aber vielleicht war es das Beste. Und wenn sie die Katze aufspürte? Wenn es der mächtigste Sender war, den je jemand gesehen hatte, und er spürte, dass Beraal ihn töten wollte? Dann würde sie weitersehen.
Im fünften Monat ihres Lebens hatte Beraal zum ersten Mal getötet, und zwar eine listige alte Ratte, die dreimal so groß gewesen war wie sie selbst. Das war der erste in einer langen Folge von Siegen gewesen. Die Kätzin hatte einen Kampf noch nie verloren und damit wollte sie auch jetzt nicht anfangen.
2
Versteckspiel
D er mächtigste Sender aller Zeiten machte vorsichtig zwei Schritte nach vorn, setzte sich auf den fellgeschützten Hintern, brachte sich mit den Vorderpfoten in Bewegung und flitzte über den auf Hochglanz polierten Wohnzimmerboden, um schließlich mithilfe des Perserteppichs zu bremsen. Das war ein tolles Spiel, fand Mara. So langsam gewöhnte sie sich an ihr neues Zuhause. Sie vermisste ihre Mutter sehr, aber der Albtraum mit dem Regenrohr und den bellenden Hunden verblasste langsam, und die Neugier auf ihr Revier verdrängte ein bisschen die Furcht und die Traurigkeit.
Das Haus, das Beraal oder andere Draußenkatzen als beengenden Stapel von Kisten betrachtet hätten, welche mit allen möglichen unnötigen Dingen vollgestopft waren, erschien dem Kätzchen riesig. Den ersten Monat ihres Lebens hatte Mara unter einem Stapel Jutesäcke am Kanal verbracht und dann war sie aus Furcht vor den Straßenhunden noch einen ganzen Tag in einem Regenrohr hocken geblieben.
Zuerst war Mara zu verängstigt gewesen, um das Haus zu erkunden, doch nach einigen Stunden hatte sie sich beruhigt. Sie mochte ihr Bett, das mit kühlen, weichen Laken bedeckt war, die ein ideales Kratzkissen für ein kleines Kätzchen bildeten. Noch wusste sie nicht genau, was sie von den Großfüßen halten sollte– sie verhielten sich viel zu laut, hoben Mara manchmal hoch, wenn sie überhaupt nicht hochgehoben werden wollte, und schienen einfach gar nichts zu begreifen. Aber sie waren lieb und versorgten das Kätzchen ganz hervorragend mit Fisch und Milch. Außerdem störten sie nicht, wenn Mara auf Erkundung ging.
Ihre Schnurrhaare zuckten, als sie versuchte, sich aus dem Teppich zu befreien, der sich auf unerklärliche Weise um sie gewickelt hatte. Maras Schnurrhaare waren eindrucksvoll: ungewöhnlich lang, weiß und nicht schwarz wie bei den meisten Kätzchen, und an den Spitzen geschwungen. Sie drückte sie meist dicht ans Gesicht. Mara hatte schon in den ersten Tagen am Kanal gelernt, dass ihr der ganze Lärm der Welt im Kopf dröhnte, wenn sie die Haare ausstreckte.
» Du bist ein Sender, Mara«, hatte ihre Mutter an dem Tag gesagt, an dem sie die Augen zum ersten Mal geöffnet hatte. Daran erinnerte sie sich genau. Die winzige Mara hatte sich an die warme Seite ihrer Mutter gekuschelt und dem überwältigenden Brausen des Verkehrs auf der Brücke über dem Kanal gelauscht. Die blauen Augen ihrer Mutter hatten wachsam ausgesehen, fast schon traurig, während sie ihrem Kätzchen die Schnurrhaare putzte und sie dabei zum Kribbeln brachte.
» Was ist ein Sender?«, hatte Mara gefragt.
Und ihre Mutter hatte ihr erklärt: » Sender sind sehr selten, und es gibt nie mehr als einen in einem Clan. Die meisten Clans in Delhi haben nur einen Sender in drei Generationen.Wenn du ein Sender bist, kannst du reisen, ohne die Pfoten zu bewegen– deine Schnurrhaare bringen dich überallhin. Und du siehst und hörst mehr als die anderen Katzen.«
Mara hatte zufrieden gesäugt und Milch getrunken, während sie sich ausgemalt hatte, was sie hören und sehen konnte und andere Katzen nicht. » Selbst mehr als du?«, hatte sie gefragt.
» Sogar mehr als ich. Ich sage doch, Sender sind selten.«
Danach hatten sie Patschepfötchen gespielt, aber später hatte Mara ihre Mutter gefragt: » Was müssen Sender machen?«
Ihre Mutter hatte das Kätzchen liebevoll geputzt. » Viel. Sender beschützen ihre Clans. Jeder Clan hofft, Glück zu haben und einen Sender zu bekommen, besonders wenn schwere Zeiten herrschen. Aber das Leben ist nicht einfach…« Ihre Mutter hatte innegehalten und ihrer Kleinen nicht sagen wollen, dass man als Sender immer anders war als andere, dass die Katzen ihres eigenen Clans das zwar akzeptierten, die meisten anderen sie jedoch fürchteten, beneideten und herausforderten. » Es ist ein interessantes
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