010 - Skandal in Waverly Hall
PROLOG
Essex, England, 1852
Dies war bestimmt der elendigste Tag ihres Lebens. Anne versuchte, nicht auf das fröhliche Geplapper ihrer Cousine Felicity zu hören, die für ihre Verlobungsfeier angekleidet wurde. Obwohl die bevorstehende Hochzeit erst heute abend verkündet werden sollte, kannten die ganze Grafschaft und halb London die Nachricht längst. Anne wünschte, sie hätte keine Ahnung davon und wäre irgendwo anders, nur nicht im Schlafzimmer ihrer Cousine. Sie hatte darum gebeten, auf ihr Zimmer gehen zu dürfen, einem kleinen, dunklen Raum, den sie nicht leiden konnte.
Doch ihre Tante behauptete, daß sie ihre Hilfe brauche, um Felicity für den zweitwichtigsten Abend im Leben einer Mutter herzurichten.
Dabei war das gar nicht nötig, denn Ednas französische Zofe erledigte alles allein.
Anne beobachtete, wie Felicitys Taille so eng geschnürt wurde, daß sie fünf Zentimeter schmaler wirkte. Bisher hatte sie ihre Cousine noch nie beneidet. Jetzt blickte sie auf die vollen Brüste und die runden Hüften und verabscheute Felicity beinahe, die unglaublich hübsch und weiblich war. Anne war sich immer schon klein und unscheinbar vorgekommen. Heute fühlte sie sich richtig häßlich, ungeliebt und furchtbar einsam.
Verzweifelt schloß sie die Augen. Felicity hatte keine Ahnung, daß jedes glückliche Wort aus ihrem Mund wie eine Klinge in das Herz ihrer Cousine fuhr. Anne liebte Domi-nick St. Georges, Viscount Lyons, länger, als sie zurückdenken konnte. Sie hatte nie einen Hehl aus ihren Gefühlen gemacht. Doch ihre Tante, ihr Onkel, ihre Cousine und ihre Vettern hatten sich darüber amüsiert oder skeptisch gelächelt. Sie, Anne, war dagegen sicher gewesen, daß Dominick sie eines Tages nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern sogar heiraten würde.
Dabei hätte ich wie Felicity von meinem Pferd direkt vor seine Füße stürzen können, er hätte es nicht einmal bemerkt, dachte sie wütend.
Anne fürchtete, ihr Herz könnte jeden Moment zerspringen. Wenn Felicity nur nicht ständig davon reden würde, wie gut Dominick aussah und wie reich er war. „O Mama", säuselte sie wohl zum hundertsten Mal. „Ich bin unglaublich glücklich und furchtbar aufgeregt!"
„Dazu hast du auch allen Grund bei diesem Mann", erklärte Edna ungerührt. „Du kannst froh sein, daß der Herzog und die Marchioness ihn gerade jetzt aufgefordert haben, nach Hause zurückzukehren und zu heiraten. Einige Tage später, und du wärst Lord Harold Reed versprochen worden."
Felicity war das jüngste von Ednas fünf Kindern und ihre einzige Tochter. Sie war vor vier Jahren in die Gesellschaft eingeführt worden und hatte seitdem ein Dutzend Heiratsanträge bekommen. Doch sie hatte alle abgelehnt. Anne hatte die zahlreichen Gespräche der Familie darüber mit angehört, wen Felicity wählen sollte.
Alle waren der Meinung gewesen, daß sie dieses Jahr heiraten müßte, und hatten sich auf Lord Reed geeinigt, einen älteren, dafür aber sehr reichen Baron. Kurz darauf hatte Dominick begonnen, Felicity den Hof zu machen, und die anderen waren sofort vergessen gewesen.
Anne schluckte trocken. Sie hatte ihr Debüt noch nicht gehabt. Nicht weil sie erst siebzehn war und ihr Onkel und ihre Tante niemals das notwendige Geld für aufwendige Bälle aufbringen würden, sondern weil sie Dominick viel zu sehr liebte, um einen anderen Mann zu heiraten. Sie würde für den Rest ihres Lebens unvermählt bleiben.
Verstohlen wischte Anne ihre Tränen fort, bevor Edna oder Felicity sie bemerkten.
Die kleine französische Zofe warf ihr einen kurzen mitleidigen Blick zu.
Edna war viel zu sehr mit ihrer Tochter beschäftigt, um es zu sehen. „Benimm dich und sei ihm eine gute Frau, dann wird es dir an nichts fehlen", riet sie Felicity. „Finde dich einfach mit seinen guten und seinen schlechten Seiten ab."
Die schöne, blonde blauäugige Felicity lachte beinahe spöttisch. „Ich kenne Dominick St.. Georges' Ruf, Mama. Er kann die schönsten Frauen der Welt haben und liebt seine Rennpferde trotzdem mehr als sie. Hältst du mich für so dumm? Ich weiß, wie sich eine Lady zu benehmen hat, Mama. Aber zu damenhaft sollte ich wohl nicht sein. Schließlich möchte ich nicht, daß Dominick unmittelbar nach unserer Hochzeitsnacht zu seiner Geliebten läuft oder ein Pferd netter behandelt als mich."
Edna nickte zustimmend. „Sollte er seine Geliebte trotzdem behalten oder seine Pferde dir vorziehen, übersieh es einfach."
„Ich fühlte mich
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