Der demokratische Terrorist
Maßstäben der westdeutschen Terroristen mußte dies als der erfolgreichste Angriff gelten, den sie in der Bundesrepublik je verübt hatten. Die noch am selben Nachmittag den Zeitungen zugespielten Erklärungen enthielten ungefähr das, was zu erwarten gewesen war. Wieder einmal hätten die europäischen Guerilleros gegen das Herzstück des kapitalistischen Staates zugeschlagen. Man habe direkt den Krieg der NATO gegen die Völker der Dritten Welt attackiert und das Kommando nach einem nicaraguanischen Revolutionshelden benannt.
Im nachhinein erschien alles logisch und vorhersagbar, obwohl die deutschen Terroristen zum ersten Mal einen so massiven Angriff gegen eine Einrichtung der Bundeswehr gerichtet hatten.
Neu hingegen war, daß den Bekennerbriefen zufolge nicht nur die Rote Armee Fraktion an dem Anschlag beteiligt war, was sowohl Polizei wie Verfassungsschutz vermuteten, als sie von der Katastrophe erfuhren, sondern auch die belgische Terroristenorganisation CCC. Früher hatte die RAF mit ihren französischen Genossen von der Action Directe zusammengearbeitet, sowohl bei Mordanschlägen wie bei Sabotageakten.
Jetzt war also auch die belgische Organisation bei Aktionen dieses Schlages mit von der Partie. Die Terroristen waren dabei, ihre Internationale zu schaffen.
Ein verwirrendes Detail war die Tatsache, daß man nicht wußte, wo der vermeintliche Bierfahrer geblieben war, nachdem er den Wagen verlassen hatte. Man vermutete, daß er ganz einfach davonspaziert war oder eine Toilette aufgesucht hatte, um dann in dem Chaos nach der Explosion zu verschwinden. Wie dem auch sei: Sein Auftritt war gespenstisch kaltblütig gewesen.
Als noch am selben Nachmittag der Hamburger Senat zusammentrat, wurden zwei Dinge hervorgehoben: Dies sei erstens der schlimmste Anschlag in der Geschichte des westdeutschen Terrorismus. Und zweitens: Im Kampf gegen diesen Terrorismus gelte es jetzt, mit aller Kraft zurückzuschlagen - um jeden Preis. Der demokratische Staat müsse sich verteidigen.
Um jeden Preis.
2
Das Bundeskriminalamt, abgekürzt BKA, hat sein Hauptquartier in einem kleinbürgerlichen Villenviertel am Rande Wiesbadens.
Der unscheinbare, von Fernsehkameras überwachte Eingang an der Thaerstraße 11 macht eher den Eindruck, als führe er in ein unbedeutendes Bürogebäude oder eine Berufsschule. Die Thaerstraße ist eine Sackgasse, die beim BKA endet, und erst wenn man sich etwas genauer umsieht, entdeckt man, daß sich hier in Wahrheit ein großer Komplex von vier bis fünf Gebäuden verbirgt, die hinter Stacheldraht und Alarmanlagen durch verglaste Gänge verbunden sind. Dies ist das polizeiliche Gehirn der Bundesrepublik Deutschland und ein Arbeitsplatz für mehrere tausend Menschen.
Kriminaloberkommissar Dietmar Werth verließ ganz gegen seine Gewohnheit das Gelände, um essen zu gehen. Obwohl er nun schon mehr als zwei Jahre in der Antiterror-Abteilung des BKA arbeitete, mußte er sich beim Verlassen des Geländes jedesmal bei den Wachtposten ausweisen. Es war ihnen offenkundig nur möglich, sich das Aussehen der allerhöchsten Chefs einzuprägen, und Werth verabscheute es, mit einem Plastikkärtchen am Jackenaufschlag herumzulaufen, als gehörte er zu irgendeiner Putzkolonne oder zum Bodenpersonal eines Flugplatzes.
Eigentlich hatte er Hunger. Das einzige Restaurant in der Nähe war ein kleines italienisches Lokal, das wie eine umgebaute Garage aussah und es vermutlich auch war. Dietmar Werth kam zu dem Schluß, daß er einen Spaziergang nötiger hatte als etwas zu essen und daß der kühle Nieselregen ihm guttun würde. Denn in zwei Stunden lief er Gefahr, sich zu blamieren.
Punkt 14 Uhr sollte er sich bei seinem Abteilungspräsidenten Klaus-Herbert Becker einfinden, dem Chef der Antiterror-Abteilung des BKA. Punkt 14 Uhr mußte Dietmar Werth eine Empfehlung parat haben, und er war fast schon entschlossen, ein riskantes Unternehmen vorzuschlagen, nämlich daß der Herr Abteilungspräsident sich entschließen möge, die Angelegenheit vom BKA an die Konkurrenz in Köln abzugeben, an den Verfassungsschutz.
Mit einem solchen Vorschlag konnte er sich eigentlich nur unbeliebt machen. Bislang war es mit seiner Karriere schnell und direkt aufwärtsgegangen, bis zu diesem Punkt, an dem sie ein abruptes Ende finden konnte, sofern nämlich der Oberst so wütend wurde, wie im schlimmsten Fall zu befürchten war, wenn er den Vorschlag seines Untergebenen zu hören bekam.
Dietmar Werth ging ziellos zur Innenstadt
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