Der Dieb der Finsternis
einer Haftstrafe verurteilt worden war, weil er in ein Botschaftsgebäude eingebrochen war, um Diamanten zu stehlen. Dennoch erhielt er immer wieder neue Aufträge, weil er sich den Ruf erarbeitet hatte, Qualitätsarbeit zu liefern, und über die Fähigkeit verfügte, so zu denken wie diejenigen, die auf der anderen Seite des Gesetzes standen und die Absicht hatten, in bewachte Gebäude einzubrechen, Computersysteme zu manipulieren und Alarmanlagen zu zerstören. Michael dachte wie der Feind, der darauf aus war, Sicherheitsvorkehrungen zu umgehen und in die Tresorräume von Banken einzudringen. Michael zu beauftragen war etwa so, als würde man einer Footballmannschaft eine Woche vor dem Entscheidungsspiel die Unterlagen stehlen, in denen der Trainer einstudierte Spielzüge notiert hatte. Man lernte, wogegen man sich verteidigen musste, wo die eigenen Schwachpunkte lagen und wie man sie minimieren konnte. Mit Michael St. Pierre lernte man das Siegen.
Michael rollte die Entwürfe zusammen, steckte sie zurück in die Pappröhre und legte diese zu der ungeöffneten Post aufs Sofa. Dann ging er ins Esszimmer. Der Tisch war für zwei gedeckt. Das marinierte Steak war im Kühlschrank und fertig für den Grill, der Wein war noch nicht geöffnet, die Kristallgläser warteten. In der Mitte des Tisches stand eine Vase mit frischen Blumen.
Nach achtzehnmonatiger Trauer um seine Ehefrau Mary zeigte Michael endlich wieder Interesse an Frauen. Mary war der Inbegriff seines Lebens gewesen. Nie hätte er gedacht, mit achtunddreißig Jahren allein dazustehen und ohne Mary leben zu müssen; niemals hätte er sich vorstellen können, wie schnell und wie bösartig Krebs sein konnte. Vor allem hatte er sich nicht vorstellen können, wie er jemals mit Marys Verlust fertig werden sollte.
Doch mit der Zeit und dank der Unterstützung seiner Freunde und seines Vaters hatte Michael langsam wieder Hoffnung geschöpft, hatte die Tragödie verdrängt, hatte sich stattdessen an Marys Lächeln erinnert und sich an den Worten erfreut: »Weine nicht, weil sie tot ist, sondern freue dich, weil sie am Leben war.«
Und so hatte er schließlich seinen Ehering vom Finger gestreift – er trug ihn seither an einer Kette um den Hals – und seinen engsten Freunden erklärt, er sei jetzt so weit.
Michael war ein attraktiver Mann mit dichtem braunem Haar, wachen dunkelblauen Augen und einem markanten Gesicht, dem anzusehen war, dass er in seinem Leben schon einiges hinter sich hatte. Er war eins achtzig groß und körperlich fit dank Bodybuilding, Freiklettern und Schwimmen. Er trug noch die gleiche Jeansgröße wie mit achtzehn und hatte auch nicht die Absicht, sich gehen zu lassen wie so mancher Altersgenosse. Das konnte er sich allein schon wegen seines Berufs nicht erlauben.
Seine Freunde Paul und Jeannie Busch hatten Michael an mehreren aufeinander folgenden Freitagabenden verplant. Vier verschiedene Frauen und vier Abendessen, bei denen geplaudert und gelächelt wurde und bei denen man sich Geschichten erzählte; viermal ein verlegenes »Gute Nacht« und verlegene Abschiedsküsse.
Erst beim fünften Rendezvous war alles anders gewesen. Diesmal war es keine Einladung zum Abendessen, sondern ein Basketball-Duell an einem Samstagnachmittag, ein Rendezvous, das Michaels Freund Simon arrangiert hatte – ausgerechnet Father Simon Bellatori, ein unkonventioneller Priester, der die Vatikanischen Archive leitete. Father Simon war Einzelgänger; seine Arbeit nahm ihn jede wache Minute in Anspruch und ließ ihm nur wenig Zeit für Freunde, sah man von Michael ab. Gemeinsam hatten er und Michael mehr als einmal dem Tod getrotzt. Sie hatten eine persönliche Beziehung aufgebaut, die zu einer Bindung gereift war, die enger war als Familienbande. Deshalb hatte Michael, als Simon Kathleen Colleen erwähnte – kurz »KC« –, die Gefühle des Freundes nicht verletzen wollen, obwohl Michael sich nicht vorstellen konnte, dass ein Rendezvous, das sein Priester-Freund arrangiert hatte, zu irgendetwas führte.
Michael betrat den Außenplatz hinter der Byram Hills High School voller Vertrauen in seine Fähigkeit als Basketballer. KC war bereits da und warf Körbe, wobei sie sich mit geschmeidiger Eleganz bewegte. KC war groß, fast eins achtzig, und schlank. Ihr Haar besaß die Farbe von Mais und war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden; ihre smaragdgrünen Augen strahlten und waren wach und voller Leben. Sie war körperlich fit und doch durch und durch
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