Der Drache aus dem blauen Ei
Abschiedsfest.“
Auch Yasemins und Anjas Eltern begrüßten einander herzlich. Yasemins kleine Schwester krabbelte sofort auf Bo zu, was diesem gar nicht gefiel.
Bald darauf klingelte es wieder und Herr Meisenbeißer und Mogli traten ein. Beide hatten rote Nikolausmützen auf!
„Wauauauuu!“, bellte Mogli zur Begrüßung und dann führte er seinen schönsten Tanz auf. Alle klatschten Beifall.
„Kommt zum Abendessen“, sagte Mama und deutete auf den festlich gedeckten Tisch. Lavundel hatte dort heute einen Ehrenplatz.
Es gab Hühnchen mit Kartoffeln. Den Kuchen verschlang Lavundel fast ganz alleine. Frau Aslan hatte lokum und andere Leckereien mitgebracht und Herr Meisenbeißer hatte einen zuckersüßen roten Saft beigesteuert.
Als sie alle so satt waren, dass sie sich kaum mehr rühren konnten, holte Mama ihr Drachentagebuch aus dem Arbeitszimmer. Alle beugten sich darüber und schauten sich die Fotos und Zeichnungen aus diesem Drachenjahr an. Da, auf der ersten Seite: der klitzekleine Lavundel, einen Tag, nachdem er aus dem Ei geschlüpft war. Anja konnte kaum glauben, dass es derselbe Drache war.
„Er hat ja wirklich in das blaue Ei gepasst“, wunderte sich auch Bo.
Dabei sah Bo auf den Fotos von vor einem Jahr selbst noch viel kleiner aus. Ja, auch er war in diesem Jahr ganz schön gewachsen.
„Hier, da habe ich aufgeschrieben, wie viel Lavundel damals gewogen hat.“ Mama deutete auf ein paar Zahlen. „Dreiundzwanzig Gramm. Und heute ist er schwerer als Mogli.“
Dann kamen ein paar Fotos von Lavundel im rosa Barbie-Mantel in seinem Hamsterkäfig-Palast. Ein paar Seiten später wurde der Palast zur chinesischen Höhle des kleinen Glücksdrachen. Alle lachten, als sie das Foto von Bo und Lavundel sahen, auf dem sie beide ganz grün waren. Dann kamen Bilder von Lavundel bei Herrn Meisenbeißer. Der Drache, wie er mit Mogli tanzte. Und wie er sich als Pirat verkleidete. Sogar die Zeitungsausschnitte mit dem Baggerseemonster hatte Mama in das Tagebuch geklebt.
„Wir haben auch Fotos mitgebracht“, sagte Frau Aslan.
„Ich auch“, sagte Oma Filiz. Schon lag ein Haufen Urlaubsfotos aus der Türkei auf dem Tisch. Eines war besonders niedlich: Lavundel beim Grillen im Garten von Oma Filiz. Lavundel, wie er einen knusprigen Fisch verspeiste. Es gab auch Fotos vom Strand, wo er Schwimmtier spielte. „Schau mal, eine Ballonbacke!“, foppte Alexander den kleinen Drachen.
Lavundel lachte so sehr, dass er vom Stuhl kippte. Mama musste ihm wieder hochhelfen. Und dann erinnerten sie sich weiter und erzählten sich noch so einige Geschichten aus diesem ganz besonderen Jahr. Es waren so viele Erinnerungen, dass sie fast verpasst hätten, wie spät es geworden war.
„Huch! Wir müssen in den Park gehen!“, rief Mama plötzlich aus. „Schnell, schnell, in zehn Minuten beginnt das neue Jahr!“
Vor einem Jahr hatte Lavundel noch in Anjas Jackentasche gepasst, jetzt aber versteckte er sich in Papas großer Aktentasche. Eilig hasteten sie zu der Stelle im Park, an der Anja das blaue Ei vor genau 359 Tagen gefunden hatte. Es war düster und kalt. Am Himmel leuchteten schon die ersten Feuerwerkslichter auf. In der Ferne hörte man Rufe und Lachen, aber in diesen abgelegenen Parkteil hatte sich außer ihnen niemand verirrt. Lavundel kroch aus der Tasche und starrte voller Erwartung in den Himmel. Auch die anderen bangten mit ihm. Anjas Herz schlug so schnell, dass sie ganz atemlos war. Alexander machte keinen einzigen Witz und Baby-Bo war knallrot vor Aufregung.
„Hoffentlich kommen sie wirklich“, flüsterte Yasemin. Anja schluckte und drückte noch fester die Daumen. Bitte, bitte, wiederholte sie in Gedanken immer wieder. Lass seine Mama herkommen! Lavundel wäre untröstlich, wenn er sie heute nicht wiedersehen würde.
„Gleich ist es Mitternacht“, flüsterte Herr Meisenbeißer. „Zehn, neun, acht …“
Und dann ging es los: Glocken erklangen in der ganzen Stadt, Feuerwerk zischte in den Himmel und explodierte in Tausenden von bunten Sternen. Eine Weile sahen sie nur atemlos zu und warteten.
Schließlich hörten sie ein Zischen und Rauschen, das nicht von dem Feuerwerk kam. Weit oben am Himmel – waren das Raketen oder Drachenfeuer? Doch dann, ganz plötzlich, mischte sich ein ganz neuer Ton in das Glockengebimmel. Tiefer klang er und viel wärmer.
„Su rufen much“, piepste Lavundel. „Su sund da!“
Jetzt sahen es auch die anderen. Mitten in dem Feuerwerk schimmerte etwas am Himmel.
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