Der Drache aus dem blauen Ei
verschlang.
„Er braucht mehr zu essen“, sagte Anja. „Er hat größeren Hunger als sonst. Vielleicht wächst er noch einmal.“
„Na gut“, meinte Mama. „Komm mit in die Küche. Ich mache dir ein riesiges belegtes Brot mit Kohlestreuseln obendrauf.“
Es war seltsam. Alles war so schön und glänzte und trotzdem konnten sie sich gar nicht so richtig darüber freuen. Dafür waren sie alle zu müde. Bo schlief schon auf dem Sofa. Alexander hatte nicht einmal mehr Lust auf ein Computerspiel. Papa kochte an diesem Abend kein warmes Abendessen. Sie aßen belegte Brote und versuchten möglichst nichts anzufassen. Schließlich durften Lichterketten und Engel nicht verrutschen. Durchs Fenster sahen sie, dass ihre Nachbarn Besuch bekommen hatten. Ihre Kinder und Enkelkinder standen im Garten und wunderten sich über den Schneedrachen. Die Kinder tollten durch den Schnee.
Aber selbst dazu waren die Geschwister Lukas zu müde. Auf Zehenspitzen schlichen sie schon früh zu ihren Betten. Bevor sie einschlief, hörte Anja noch das Knurren von Prinz, der draußen im Garten herumsprang. Oder war es vielleicht doch Lavundels Magen?
Oh Palmenbaum!
Als Anja die Augen wieder aufschlug, war endlich Weihnachten. Sie war natürlich nicht die Erste, die das gemerkt hatte.
„Aufstehen!“, brüllte Baby-Bo draußen im Flur. „Heute gibt es Geschenke!“
Müde krochen ihre Eltern aus den Federn. Auch Alexander erschien mit verstrubbelten Haaren an seiner Tür und gähnte herzhaft. „Boah, ich hab Muskelkater“, behauptete er.
„Na dann: Frohe Weihnachten, Kinder!“, brummelte Papa. „Jetzt lasst uns frühstücken.“
Gemeinsam stolperten sie müde, aber gut gelaunt die Treppe zum Wohnzimmer runter. Aber was war denn hier passiert?
„Die Plätzchen!“, rief Mama entsetzt. „Der ganze schöne Weihnachtsschmuck!“
„Der Braten“, entfuhr es Papa. „Die nagelneue Krippe.“
„Der Weihnachtsbaum!“, schrie Bo. „Die Lichterketten!“
„Er hat doch nicht etwa den Weihnachtsbaum gefressen?“, fragte Alexander fassungslos.
Doch der verkohlte Stumpf verriet ihm die Antwort. Auch die Krippe mit den Holzfiguren, das Lametta, die Kugeln, die Lichterketten und sogar die Kerzen – alles war weg. Überall lagen noch Reste der Riesenmahlzeit: Knochen vom Weihnachtsbraten, Krümel von den Plätzchen, Fetzen von Lametta.
„Er hat alles verspeist!“, schrie Alexander. „Lavundel hat unser Weihnachten gefressen.“
Auweia! Anja wurde ganz flau zumute. Denn Mama lief schon ganz rot an und ihre Augen blitzten.
„Er hatte eben Hunger“, versuchte Anja den Drachen zu verteidigen. „Er kann nichts dafür. Das bisschen Kohle hat ihm eben nicht gereicht.“
„Wo ist er?“, rief Mama mit donnernder Stimme.
„Uff“, kam es kläglich hinter dem Sofa hervor. Sie stürzten alle hin. Da lag Lavundel und strich sich über den kugelrunden Bauch. Etwas Erstaunliches war geschehen: Über Nacht war er ein ganzes Stück gewachsen und jetzt beinahe doppelt so groß wie Mogli. Und er sah ziemlich zerknirscht aus.
„Seht ihr?“, sagte Anja zu ihren Eltern. „Er war im Wachsen. Und ihr habt ihn gestern fast verhungern lassen! Vor lauter Lametta und Plätzchen und Lichterketten habt ihr nichts gemerkt.“
„Du aber auch nicht, Lamettakopf“, schnappte Alexander.
Das stimmte. Keiner von ihnen hatte Lavundels Hunger beachtet. Jetzt war es Familie Lukas, die den Drachen ganz zerknirscht betrachtete. Alle hatten ein schlechtes Gewissen. Mama ließ sich neben Lavundel auf das Sofa sinken. Er sah immer noch aus, als würde er auf das große Donnerwetter warten. Aber Mama ließ kein Donnerwetter los. Nein, sie … begann zu lachen!
„Oh, jetzt wird sie verrückt“, flüsterte Alexander Anja zu. „Das war wohl zu viel für sie. Ein schrecklicher Schock.“
Aber Mama schien ganz vergnügt zu sein. Sie lachte, bis ihr die Tränen kamen, dann tätschelte sie dem verdutzten Lavundel den Kopf. „Du armer, kleiner Drache“, sagte sie. „Da versuchen wir das perfekte Weihnachten hinzukriegen. Und da muss uns ein hungriger Drache daran erinnern, worum es bei diesem Fest wirklich geht.“ Sie sah sich in dem ganzen Durcheinander um. „Ganz bestimmt nicht um den ganzen Glitter oder die besten Plätzchen. Und auch nicht darum, den teuersten Schmuck und den tollsten Braten zu haben. Nein, heute soll es allen gut gehen, weil wir uns lieb haben. Und niemand, niemand darf hungern.“ Sie beugte sich vor und gab Lavundel einen Kuss
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