Der dritte Berg
sie zum ersten Mal verstehen. Ich habe indisches Blut, wie habe ich sonst bloà einen vernarbten, im All kreisenden Felsbrocken sehen können â¦
Chandra , der Leuchtende
heiÃt der Mond in Indien, oder
Indu , der helle Nektartropfen
dann
NishÄkara , Erschaffer der Nacht
Oshadhīsha , Herr der Kräuter
Udupa , Hüter der Sterne
oder auch
HimÄnshu , der kühl Strahlende .
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ALS TEENAGER HABE ICH eine Unmenge an Reportagen gesammelt, die allesamt beweisen sollten, dass Indien keine Weisheit, keinen Fortschritt, keine besonderen Menschen und ganz allgemein nichts von Interesse aufzuweisen hat, das über die Müllmenschen von Bombay oder die Kuhkadaver im Ganges hinausgeht. Und dazu hasste ich unsere Besuche in diesem ekligen Kalkutta, der Stadt meines GroÃvaters. Der einzigen indischen Stadt, die Maggie mochte. Niemals werde ich ganz dahinterkommen, warum.
Heute hat die Familiengeschichte mich eingeholt. Heute verhindert Oberst Shivmangal Rai von der Indian National Army erfolgreich, dass ich mich irgendwo heimisch fühle. Nun sind Menschen keine Bäume, sie müssen keine Wurzeln schlagen, sie können ziellos umherschweifen und dennoch leben sie weiter. Ãsterreich, dessen gröÃter Vorzug gegenwärtig in seiner schadenlimitierenden Kleinheit besteht, ist ja bestimmt kein Ort für jemanden wie mich. Und manchmal frage ich mich, wie viel Heimat der Mensch denn benötigt. Dann glaube ich, er ist unglücklich ohne sie, doch ist ihm die Welt zugänglich, ihm, dem offenen, heimatlosen, melancholischen Geist. Mit unbestreitbarem genetischen Recht bin ich Mitglied der neuen Spezies: homo migrans migrans .
Und wie alle Migranten bin ich ein Träumer. Ich lebe in Wien, doch spinne ich Träume von bengalischen Reisfeldern, wenn der erste Monsunwind in sie fährt, von den karstigen, roten Felslandschaften Südindiens in der Hitze des April, ich träume von der Präsenz , die man in diesem alten Indien spüren kann, in den Kühen, den steinigen Hügeln, der Morgensonne, als wäre dort alles durchtränkt mit Geist.
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Das Frühstück in Neckargemünd bestreite ich mit einer Menge grässlicher, gefilterter Brühe. Es ist das, was man in einem solchen Land Kaffee nennt. Mein Notebook steht vor mir. Spät bin ich von meinem Neckarufer zurückgekommen; noch immer hängen die Gedanken an Maggie um mich. Ich bin müde und meine Augen schmerzen. Maggie hätte Abhilfe schaffen können. Manchmal hat sie mir Umschläge mit einer Kräuteressenz gemacht und mich eine halbe Stunde lang in ihr Bett verbannt, während sie an ihrem Schreibtisch arbeitete.
Ich kann kaum noch lesen. Es ist ja nicht bloà die Müdigkeit, die meinen Augen zusetzt. Es ist eine chronische Netzhautentzündung, die ihre Existenz einem myelodysplastischen Syndrom verdankt, einer Vorstufe der Leukämie. Dieses Syndrom hat mich im Alter von acht Jahren mehrere Monate lang aufs Krankenlager gezwungen.
Jetzt fangen die Worte auf dem Bildschirm meines Notebooks an zu vibrieren. Dann huschen sie im Kreis herum. Ich schlieÃe die Augen für eine Weile. Ich atme mehrmals tief durch und lese endlich weiter.
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⦠das beinahe automatische Anwachsen der Lebenserwartung, welches wir seit Jahrzehnten zu beobachten glauben, fuÃt in Wahrheit auf Trugschlüssen. Eine Tatsache, verehrte Damen und Herren, die auf Besonderheiten der Statistik ebenso wie auf die materielle Entwicklung der Zivilisation und die damit einhergehende Verbesserung unserer Lebensumstände zurückzuführen ist. Man kann daher sagen, wir befänden uns bloà in einem Konsolidierungsprozess. Das maximal erreichbare durchschnittliche Lebensalter kann bei knapp hundert Jahren angesetzt werden. Die Ãlteren von uns werden hundertundzwanzig Jahre alt werden. Schon in antiken Texten aus Indien spricht man â ein hochinteressantes Faktum â von dieser Lebensspanne. Hundertundzwanzig Jahre. Doch wollen wir darüber hinausgehen, stoÃen wir an eine biologische Grenze. Sie kann nur überschritten werden, wenn die Telomere an den Enden der Chromosomenmoleküle vor der Zerstörung bewahrt werden könnten, Mutationen in den Körperzellen vorgebeugt und Zellabfall abgeführt wird. Ganz zu schweigen von der Erhaltung der Proteinfaltung â¦
Aus den genannten Gründen kann eine weitere Erhöhung des Lebensalters nicht durch die
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