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Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Titel: Der dunkle Turm - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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passiert. Ich bin gestorben.
    Wenn er so etwas sagte, würde Mr. Bissette sofort mit Elmer Chambers telefonieren, und Jake war überzeugt, das Sunnyvale-Sanatorium würde wahrscheinlich wie ein Erholungsheim wirken, nachdem sein Vater alles abgelassen hatte, was er über Jungs zu sagen wußte, die kurz vor Ende des Schuljahres plötzlich seltsame Anwandlungen bekamen. Jungs, die etwas machten, worüber man nicht beim Essen oder bei Cocktails sprechen konnte. Jungs, die ERWARTUNGEN NICHT ERFÜLLTEN.
    Jake zwang sich, Mr. Bissette zuzulächeln. »Ich mache mir etwas Sorgen wegen der Prüfungen.«
    Mr. Bissette blinzelte. »Schaffst du spielend.«
    Ms. Franks läutete die Versammlungsglocke. Jeder Schlag bohrte sich in Jakes Ohren und schien wie eine kleine Rakete durch sein Gehirn zu jagen.
    »Komm mit«, sagte Mr. Bissette. »Wir kommen zu spät. Und am ersten Tag der Abschlußprüfungen sollte man nicht zu spät dran sein, oder?«
    Sie gingen hinein, vorbei an Ms. Franks und ihrer schrillen Glocke. Mr. Bissette näherte sich einer Sitzreihe, die er Fakultätschor nannte. In der Piper School gab es eine Menge niedliche Namen wie diesen; das Auditorium nannte man das Gemeinschaftszimmer, die Mittagspause hieß Freizeit, Siebt- und Achtkläßler waren Oberjungs und -mädchen, und die Klappstühle beim Klavier (mit dem Ms. Franks bald ebenso unbarmherzig umgehen würde wie mit der Silberglocke) waren selbstverständlich der Fakultätschor. Das war alles Bestandteil der Tradition, vermutete Jake. Wenn man als Eltern wußte, das Kind verbrachte seine Freizeit im Gemeinschaftszimmer und schlang nicht nur in der Mensa ein Thunfischsandwich hinunter, entspannte man sich in dem sicheren Gefühl, daß an der Ausbildungsfront alles bestens in Ordnung war.
    Er nahm auf einem Stuhl im hinteren Teil Platz und ließ die morgendlichen Ankündigungen über sich hinwegrauschen. Das Grauen brandete endlos durch sein Gehirn und vermittelte ihm ein Gefühl, als wäre er eine im Laufrad gefangene Ratte. Und wenn er versuchte, in eine kommende, bessere Zeit zu sehen, sah er nur Dunkelheit.
    Das Schiff war seine geistige Gesundheit, und es ging unter.
    Mr. Harley, der Rektor, näherte sich dem Podium und ließ einen kurzen Vortrag ab, wie wichtig die Abschlußprüfung war und daß die Zensuren einen weiteren Schritt auf der GROSSEN STRASSE DES LEBENS bedeuteten. Er sagte ihnen, daß die Schule von ihnen abhängig war, er war von ihnen abhängig, und ihre Eltern waren von ihnen abhängig. Er sagte ihnen nicht, daß die gesamte freie Welt von ihnen abhängig war, deutete aber vielsagend an, daß das so sein könnte. Abschließend offenbarte er ihnen, daß während der Woche der Prüfung keine Glocken geläutet würden (für Jake die erste gute Nachricht dieses Morgens). *Ms. Franks, die am Klavier Platz genommen hatte, schlug einen einleitenden Akkord an. Die Schülerschaft, die ausnahmslos in einer ordentlichen und adretten Weise gekleidet war, welche Geschmack und finanzielle Sicherheit der Eltern verriet, erhob sich wie ein Mann und stimmte die Schulhymne an. Jake sang die Worte und dachte an den Ort, wo er nach seinem Tod aufgewacht war. Zuerst hatte er gedacht, er wäre in der Hölle… und als der Mann in der schwarzen Kapuzenrobe des Wegs gekommen war, war er sich dessen gewiß gewesen.
    Dann war natürlich der andere gekommen. Ein Mann, den Jake fast ins Herz geschlossen hatte.
    Aber er hat mich abstürzen lassen. Er hat mich getötet.
    Er konnte spüren, wie ihm kribbelnd der Schweiß am Hals und zwischen den Schulterblättern ausbrach.
     
    »Drum grüße ich dich, Piper,
    Gebe deiner Flagge den Gruß,
    Heil dir, meine Alma Mater,
    Getreu dir, bis ich sterben muß!«
     
    Großer Gott, was für ein beschissenes Lied, dachte Jake, und plötzlich mußte er daran denken, daß es seinem Vater gefallen würde.
     
     

2
     
    Das erste Fach war vergleichende englische Literatur, das einzige, in dem keine Abschlußprüfung stattfand. Sie hatten aber als Hausaufgabe einen Aufsatz schreiben müssen. Dabei sollte es sich um ein maschinengeschriebenes Dokument zwischen fünf und zehn Seiten handeln. Als Thema hatte Ms. Avery vorgegeben: Mein Verständnis von Wahrheit. Dieser Abschlußaufsatz würde fünfundzwanzig Prozent der Semesternote bilden.
    Jake trat ein und setzte sich auf seinen Stuhl in der dritten Reihe. Alles in allem waren sie nur elf Schüler. Jake erinnerte sich an den Orientierungstag im letzten September, als Mr. Harley ihnen

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