Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Ende des Wegs?«
Bevor Roland ein Wort sagen konnte, war Jake auf der Stützstrebe an ihm vorbeigegangen. Oy hielt er immer noch unter dem rechten Arm. Die blutige linke Hand hielt er steif von sich gestreckt.
»Jake, nein!« rief Eddie verzweifelt.
»Ich komm dich holen«, sagte Roland mit derselben gedämpften Stimme.
»Ich weiß«, wiederholte Jake. Der Wind frischte erneut auf. Die Brücke schwankte und stöhnte. Der Send war mittlerweile von weißer Gischt gekrönt, Wasser brodelte weiß um das Wrack des blauen Mono, der stromaufwärts aus dem Wasser ragte.
»Ay, mein Jüngelchen!« krähte Schlitzer. Er riß den Mund auf und entblößte einige erhaltene Zähne, die aus seinem weißen Zahnfleisch ragten wie verfallene Grabsteine. »Ay, mein hübscher junger Knabe! Komm nur weiter.«
»Roland, er könnte bluffen!« rief Eddie. »Das Ding könnte eine Attrappe sein!«
Der Revolvermann antwortete nicht.
Als sich Jake der andern Seite des Lochs im Gehweg näherte, fletschte Oy die Zähne und fauchte Schlitzer an.
»Wirf diesen sprechenden Sack voll Innereien ins Wasser«, sagte Schlitzer.
»Leck mich«, antwortete Jake mit ruhiger Stimme.
Der Pirat sah einen Moment verblüfft drein, dann nickte er. »Bist vernarrt in ihn, was? Na gut.« Er wich zwei Schritte zurück. »Setz ihn in dem Moment runter, wenn du auf dem Beton bist. Und ich schwöre dir, wenn er auf mich zugelaufen kommt, kick ich ihm das Gehirn hinten raus durch sein zartes Arschloch.«
»Arschloch«, sagte Oy mit gefletschten Zähnen.
»Sei still, Oy«, murmelte Jake. Er erreichte den Beton, als die bisher stärkste Windbö die Brücke traf. Diesmal schien das Sirren reißender Kabel von überall zu kommen. Jake drehte sich um und sah, wie sich Roland und Eddie am Geländer festhielten. Susannah betrachtete ihn über Rolands Schulter hinweg, ihre Lockenpracht wogte im Wind. Jake hob zum Abschied die Hand. Roland hob seine ebenfalls.
Wirst du mich diesmal wieder fallenlassen? hatte er gefragt. Nein – nie wieder, hatte Roland geantwortet. Jake glaubte ihm… aber er hatte große Angst, was passieren könnte, bevor Roland eintraf. Er setzte Oy ab. Im selben Augenblick rannte Schlitzer los und kickte nach dem kleinen Tier. Oy schnellte beiseite und wich dem Stiefel aus.
»Lauf!« brüllte Jake. Oy gehorchte, lief mit gesenktem Kopf auf das Ende der Brücke zu, wich Löchern aus und sprang über Risse im Belag. Er drehte sich nicht mehr um. Einen Moment später hatte Schlitzer einen Arm um Jakes Hals gelegt. Er stank nach Schmutz und faulendem Fleisch, zwei Gerüche, die zusammen einen verkrusteten, durchdringenden Gestank ergaben. Jake stieg Übelkeit im Hals hinauf.
Schlitzer drückte den Schritt gegen Jakes Pobacken. »Vielleicht bin ich doch noch nicht so schlapp, wie ich gedacht hab’. Sagt man nicht, Jugend ist der Wein, der alte Männer trunken macht? Nun, wir werden Zeit miteinander verbringen, oder nicht, mein kleines hübsches Bübchen? Ay, wir werden Zeit miteinander verbringen und dafür sorgen, daß wir die Engel singen hören.«
Gütiger Himmel, dachte Jake.
Schlitzer erhob erneut die Stimme. »Wir gehen jetzt, mein hartgesottener Freund – wir müssen große Dinge sehen und große Menschen besuchen, so isses, aber ich halte mein Versprechen. Was euch betrifft, ihr bleibt fünfzehn Minuten stehen, wo ihr seid, wenn ihr klug seid. Wenn ich sehe, daß ihr euch in Bewegung setzt, gehen wir alle gemeinsam in die ewigen Jagdgründe. Habt ihr mich verstanden?«
»Ja«, sagte Roland.
»Glaubst du mir, wenn ich sage, daß ich nichts zu verlieren hab’?«
»Ja.«
»Das ist gut. Los, Bewegung, Junge! Hopp!«
Schlitzer umklammerte Jakes Hals, bis dieser kaum noch atmen konnte. Gleichzeitig wurde er nach hinten gerissen. So wichen sie zurück und behielten die Lücke im Auge, wo Roland mit Susannah auf dem Rücken stand, und Eddie gleich dahinter, immer noch die Ruger in der Hand, die Schlitzer ein Spielzeug genannt hatte. Jake konnte spüren, wie Schlitzers Atem als heiße kleine Wölkchen gegen sein Ohr puffte. Schlimmer, er konnte ihn riechen.
»Versuch keine Tricks«, flüsterte Schlitzer, »sonst reiß ich dir die weichen Klicker ab und stopf sie dir ins Kackloch. Und es wäre doch schade, sie zu verlieren, bevor de überhaupt die Möglichkeit gehabt hast, se zu benützen, oder? Wirklich schade.«
Sie kamen zum Ende der Brücke. Jake erstarrte, weil er befürchtete, Schlitzer würde die Granate wegwerfen, aber das tat er
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