Der eiserne Wald
und Neid.
Daraus wurde jetzt nichts mehr. Es war nun fast ein Jahr her, dass sie Pa mitgenommen hatten, und der Verlust schmerzte immer noch so sehr wie ein entzündeter Zahn. Klar, ich hatte mich daran gewöhnt, ohne ihn zu bauen, mich um den Wagen zu kümmern, alleine zu essen. Aber die Stille schlich sich immer wieder ein, und dann wurde alles hohl und leer.
Ich nahm den Hut ab, lehnte mich zurück und beobachtete, wie im Haus die Lichter an und aus gingen. Als ich dann mit dem Essen fertig war, konnte ich nicht schlafen, hatte aber auch keine Lust, mir zu überlegen, wie ich den Baum bauen sollte, der auf Frosts Frau skizziert war. Also wühlte ich kurz in der Schachtel mit den LEDs und holte meine Stirnlampe hervor. Und mein Buch.
Ich habe, was das Lesen angeht, nie so richtig den Dreh rausgehabt, aber Pa konnte es. Meine Mutter hatte es ihm beigebracht, bevor sie verhungert war. Bevor sie uns verlassen hatte. Vielleicht erinnerte mich das Buch also genauso an die Mutter, die aus meinem Gedächtnis verschwunden war, wie an den Vater, den ich nicht vergessen konnte.
Das Buch erinnerte mich auch an die Geschichten, die Pa mir früher vorgelesen hatte. Die Geschichten aus der alten Welt. Von Leuten, die an klaren, kalten Flüssen entlangwanderten, von Fischen, die man fangen, und Tieren, die man jagen konnte. Von hohem Gras und Tälern voller Blumen. Von Bäumen in den Bergen, die bis in den Himmel reichten.
Bäumen voller Samen und Blüten. Zweigen, an denen Nüsse und Beeren hingen und andere Dinge, die nur darauf warteten, gepflückt und gegessen zu werden.
Das Buch hatte dieselbe rostrote Farbe angenommen wie mein Wagen. Ich blätterte die Seiten um, hob sie an die Nase und atmete tief ein, als könnte ich so auch die Geschichten in mich aufnehmen. Doch dann hörte ich ein schabendes Geräusch, als würde draußen jemand herumschleichen.
Es klang nah. Verdammt nah.
Ich schob das Buch unter einen Sack mit Nägeln und vergewisserte mich, dass es gut versteckt war. Dann rutschte ich aus dem Wagen heraus und stellte mich der Dunkelheit.
»Wer ist da?«, zischte ich.
Aber da sah ich ihn schon. Der dicke Junge, der oben am Fenster gestanden hatte, hockte neben dem Hinterrad, als würde er an den Reifen pinkeln.
»Du bist der Baummeister«, stellte der Kleine mit einem pausbäckigen Grinsen fest. Ruckartig richtete er sich auf, als ich die Stirnlampe auf ihn richtete. »Du wohnst in meinem Haus.«
»Ich gehe nicht mal in die Nähe des Hauses. Klare Anweisung.«
»Schön blöd.« Der Junge kicherte. »Wir haben Licht. Und einen Fernseher.«
»Funktioniert er?«
»Traumhaft.«
Ich lehnte mich gegen den Wagen. Damit meinte er, dass darauf einige alte Filme abgespielt werden konnten. Wenn man in diesen Filmen Bäume sieht, dann sind sie gesund und lebendig. Mit tanzenden, wiegenden Ästen und Blättern, die im Wind rauschen.
»Wirklich blöd, dass du nicht ins Haus darfst.« Wieder kicherte der dicke Junge.
»Vielleicht werden wir ja Freunde und dein alter Herr lädt mich zu euch ein.«
»Glaub ich nicht.« Er schob den Kopf durch die Heckklappe und schnüffelte in meinen Sachen herum.
»Tu dir keinen Zwang an«, sagte ich trocken. Ich beobachtete das Haus und fragte mich, ob allein das Gespräch mit Frosts Sohn mich schon in Schwierigkeiten bringen würde.
»Hat er dir gefallen?« Jetzt fummelte er an der Nagelpistole herum.
»Leg das weg«, befahl ich ihm. »Das ist kein Spielzeug.«
»Aber hat er dir gefallen?«
»Wer?«
»Ihr Baum.« Der Junge zog sich aus dem Wagen zurück, baute sich vor mir auf und grinste anzüglich. Ich schaltete die Stirnlampe aus.
»Ich habe ihn noch nie gesehen«, erklärte er dann.
»Tja, du solltest deine Mama auch nicht nackt sehen, Kleiner.«
»Nenn mich nicht Kleiner. Du bist nicht viel älter als ich. Und sie ist auch nicht meine Mama.«
»Was ist sie dann?«
»Mein Dad hat sie gewonnen. In Vega. Mit ihrer Tochter.«
»Deine Schwester?«
»Wenn du sie so nennen willst.«
»Hat sie auch einen Baum auf dem Bauch?«
»Warum?« Das anzügliche Grinsen kehrte zurück. »Willst du sie gerne nackt sehen?«
»Hau bloß ab.« Ich hatte die Schnauze voll. Da wühlte der kleine Idiot einfach in meinem Kram herum!
»Vielleicht willst du ja noch ein bisschen lesen.«
Da fehlten mir erst mal die Worte. Ich starrte ihn einfach nur an.
»Spionierst du mir nach?«
»Was liest du denn da?«
»Ich lese gar nichts.«
Plötzlich hörte ich Geräusche aus dem Haus,
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