Der entgrenzte Mensch
begleitet und von jeder Kritik und von allen Konflikten verschont zu werden: Einzig, wenn sie am Wochenende zuhause sei und sich fünfzehn und zwanzig Stunden mit Poker- und Computerspielen beschäftige, dann gäbe es mal eine vorsichtige Kritik, ob sie denn wirklich schon alles für ihr Studium getan habe. Die Eltern wollten ihr Abgrenzungsbedürfnis nicht verstehen und darum könnten sie auch nicht verstehen, warum sie das Wochenende mit Computerspielen verbringe. Für die Studentin seien die PC-Spiele genau deshalb so attraktiv, weil sie nur beim Spielen etwas von sich selbst spüren könne, ohne dass sie das Gefühl habe, der zugewandte, wohlwollende Blick von Vater und Mutter ruhten auf ihr.
Die Zeiten, da Psychotherapie vor allem die Aufgabe hatte, Menschen von einem rigiden Über-Ich zu befreien, das überall Warnschilder und Grenzen spüren ließ, sie in ihrem Antriebsleben hemmte und jedes eigenwillige Handeln und autonome Fühlen mit Straf- und Liebesverlustängsten belegte, sind in unserem Kulturraum längst vorbei. Gegenwärtig leiden Menschen vor allem unter der psychischen Not, über keine Grenzen signalisierende, kritische und Orientierung gebende innere Strukturen zu verfügen. Deshalb fehlen ihnen auch die dazu gehörenden emotionalen Kräfte, sich für etwas zu interessieren, zu wissen, was sie wollen, konzentriert, engagiert, Feuer und Flamme sein zu können, sich aggressiv oder traurig zu fühlen.
Stehen entgrenzten Menschen - aus welchen Gründen auch immer - die Mittel zu ihrer Selbstentgrenzung nicht zur Verfügung, dann beginnen sie, an ihrem Streben nach Grenzenlosigkeit zu leiden. Der These, dass es heute in mindestens drei Viertel aller Psychotherapien darum geht, Menschen in die Lage zu versetzen,
die vom Leben selbst zugemuteten Grenzen akzeptieren zu können, wird von Insidern kaum widersprochen werden. Bei den Therapien mit Kindern und Jugendlichen dürfte der Prozentsatz noch höher liegen.
Unbewusst fühlen entgrenzte Menschen durchaus noch etwas. Im Schlaf ist der Mensch sich selbst überlassen, gibt es keine äußere Belebung und Animation, so dass die Träume seine innere Befindlichkeit in Szene setzen. Und hier fällt auf, dass entgrenzte Menschen sich in ihren Träumen ganz oft ziellos durch öde, menschenleere Landschaften und Städte bewegen, in denen es große, unbehauste Bauten und Plätze gibt, die verlassen wurden und verfallen. Die Szenerie steht für ihre Gefühle: Sie fühlen sich leer, verlassen, isoliert, ohne Antrieb, ohnmächtig und kraftlos.
Es gibt noch einen anderen Zugang zur unbewussten Befindlichkeit entgrenzter Menschen. Richtet man sein Augenmerk auf die Gefühle, die in den inszenierten Wirklichkeiten und in den virtuellen Parallelwelten ausgelebt werden, lassen sich relativ einfach (wenn auch nicht fehlerfrei) Rückschlüsse auf die unbewusste Befindlichkeit ziehen. Welche Persönlichkeitsattribute werden gewählt bzw. mit welchen Gefühlsqualitäten werden die Avatare ausgestattet? Welche Gefühle werden in »World of Warcraft« mobilisiert? Die Untersuchungen zeigen, dass das Spiel »World of Warcraft« fasziniert, weil man darin erfolgreich sein kann, mit anderen verbunden ist, seine Macht spüren und sich selbstwert erleben kann (vgl. Barnett u.a. 2010). Der Rückschluss von diesen Wunschrealisierungen auf die inneren Befindlichkeiten der Spielerinnen und Spieler führt zu den gleichen inneren Wahrnehmungen, die entgrenzte Träumer in ihren Träumen ins Szene setzen.
ENTGRENZUNG UND ABHÄNGIGKEIT
Die Hinweise auf die unbewusste und innere Befindlichkeit entgrenzter Menschen verdeutlichen, dass diese vor allem unter einem Mangel an inneren Bildern der psychischen Eigenkräfte leiden (vgl. den Abschnitt »Was treibt den enteigneten Menschen an?« in Kapitel 7). Darum können sie nur eingeschränkt aus eigenem Antrieb vertrauen, lieben, wertschätzen, sich zuwenden, sich freuen, oder auch skeptisch, kritisch, abgrenzend, aggressiv oder traurig sein. Die genauere Analyse der Entgrenzung der ersten, psychisch besonders relevanten Grenzüberschreitung im Leben eines Menschen, nämlich die von einer ausschließlich bedingungslosen zu einer auch bedingten Liebe, hat exemplarisch gezeigt, wie sehr jedes reale Beseitigen oder Ausblenden von zu überschreitenden Grenzen zwar zu grenzenloser Zuwendung führt, diese aber nur auf Grund einer bleibenden Abhängigkeit von bedingungslos liebenden Personen oder von Symbolisierungen einer solchen Liebe zu haben
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