Der entgrenzte Mensch
Partnerschaft mit ihren erwachsenen Bezugspersonen folgen. Sie fühlen sich überfordert und gelähmt, finden keinen Zugang zu ihren altersbedingten Fähigkeiten und artikulieren diese Desorientierung in Widerständigkeit, etwa in einem schulischen Leistungsversagen. Doch wie reagieren Erwachsene auf ein Versagen, mit dem sich das Kind einer solchen virtuellen Partnerschaft widersetzt?
Der für eine zeitgemäße Erziehung plädierende Pädagoge Wolfgang Bergmann (vgl. Bergmann 2009) rät in einem Interview (Bergmann 2010): »Wenn das Kind mit einer Vier in Mathe heimkommt, sollte ein Vater die Größe haben zu sagen: ›Die Vier ist jetzt schnurzegal, wir essen erstmal was Leckeres‹.« Die »Größe« des Vaters besteht darin, dass er die Wahrnehmung seiner eigenen Gefühle angesichts des Versagens seines Kindes ausblendet. Er spürt keine Gefühle der Enttäuschung, auch nicht der Wut oder des eigenen Versagens, aber auch kein Mitgefühl mit dem Versagen des Kindes. Er fühlt keinerlei eigene Gefühle.
Statt dessen lädt er zur Virtualisierung der Persönlichkeit ein: Er will, dass sie so tun (simulieren), wie wenn gar nichts wäre. Deshalb kann die Vier ihm auch schnurzegal sein. Sie tauchen einfach gemeinsam in eine ihnen beide befriedigende Welt ein (»essen erstmal was Leckeres«), um sich zu beweisen, dass sie Freunde sind und bleiben und dass sie auch keine Vier in Mathe auseinanderdividieren kann.
Eine virtuelle Freundschaft und Partnerschaft herzustellen, die Kindern und Jugendlichen ein grenzenloses Urvertrauen unter Ausblendung einer Probleme schaffenden Auseinandersetzung mit einer väterlichen Figur anbietet, bestimmt heute zunehmend auch die religiöse Erziehung. Diese war traditionell immer auch durch das »Auge« Gottes »belastet«, das alles sieht; sie kannte noch einen Hiob, der Gott wegen der Abwesenheit seiner bedingungslosen Liebe anklagt, und einen Jesus, der am Kreuz seine Gottverlassenheit bekennt. Heute geht es in der virtuellen Welt religiöser Erziehung und Missionierung fast ausschließlich um Verlässlichkeit und bedingungslose Liebe: Das gläubige Kind ist von Schutzengeln gegen alle Eventualitäten des Lebens umstellt; Jesus ist der beste Freund, auf den immer Verlass ist; Gott verweigert sein Ohr im Gebet nie und ist der Inbegriff einer grenzenlosen und unverbrüchlichen Liebe. Ein Leben, das Gott zum bedingungslos liebenden Freund und Partner hat und dessen Verlässlichkeit im religiösen Ritual und Gebet in Erfahrung gebracht wird, ist nicht nur für Kinder, sondern heute auch (wieder) für viele Erwachsene eine gesuchte Virtualisierung, um in den Genuss und Schutz einer grenzenlosen mütterlichen Figur zu kommen.
Erziehung und Religiosität (Spiritualität) sind nur zwei mögliche Beispiele, an denen sich zeigen lässt, wie gegenwärtig gerade durch die virtuelle Herstellung von Persönlichkeit und Bezogenheit auch eine Freundschaft und Partnerschaft unter Ungleichen möglich gemacht wird. In dem hier erörterten Zusammenhang dient die Virtualisierung dazu, keine Begrenzung der bedingungslosen Liebe und entsprechende Unlusterfahrungen hinnehmen zu
müssen. Ausgeblendet wird dabei das väterliche Prinzip bedingter Liebe, weil dieses die Wunscherfüllung vom realen menschlichen Vermögen abhängig macht und die aufeinander Bezogenen deshalb immer mit der eigenen Begrenztheit konfrontiert.
Ob man den Kindern weiterhin eine uneingeschränkte bedingungslose Liebe gewährt und sie »pampert« oder ob man sie zu scheinbaren Partnern der Erwachsenen macht, beide »Lösungen« dienen dem gleichen Zweck: Sie sollen den psychischen Schmerz nicht spüren lassen, den jedes Kind wahrnimmt, wenn es mehr und mehr darauf verzichten muss, bedingungslos geliebt zu werden; darüber hinaus sollen auch die möglichen Folgen eines psychischen Schmerzes vom Kind ferngehalten werden. Beide »Lösungen« gehen auf Kosten der väterlichen Funktion, indem sie die Bedingungen setzende Bezugsperson beseitigen oder ausblenden.
Dass das Problem in der Ausblendung der väterlichen Funktion zu sehen ist, wird bei dem heute so lauten Ruf nach den Vätern und dem Wehklagen über das Versagen der Väter oft übersehen. Die väterliche Funktion ist kein Privileg von Männern und leiblichen Vätern (auch wenn die patriarchal organisierte Gesellschaft diese väterliche Funktion mit dem Mann und Vater identifiziert hat). Das väterliche Beziehungsangebot, Anerkennung und Wertschätzung auf Grund von eigener
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