Der Erdsse Zyklus 05 - Rueckkehr nach Erdsee
hatte sie umarmt und ihre Hand auf die große Narbe gelegt, aus der ihr halbes Gesicht bestand. »Du bist ebenso Kalessins Tochter wie meine.«
Das Mädchen hatte sie ganz lange ganz fest gedrückt, dann hatte es losgelassen, sich wortlos umgewandt und war Yenay zur Tür hinaus gefolgt.
Tenar hatte die Kälte der Nachtluft gefühlt, wo sie gerade noch die Wärme von Tehanus Körper und Armen gespürt hatte, und war ans Fenster getreten ...
Unten im Hafen brannten Lichter. Männer kamen und gingen. Der Hufschlag der Pferde, die durch die steilen Straßen hinunter zum Anlegesteg geführt wurden, hallte zu ihr herauf. Ein großes Schiff mit hohem Mast lag am Kai. Sie kannte dieses Schiff; es war die Delphin. Sie schaute aus dem Fenster und erkannte Tehanu auf dem Dock. Sie sah, wie sie schließlich an Bord ging, ein Pferd am Zügel führend, das gescheut hatte, und sah, wie Lebannen ihr folgte. Sie sah, wie die Leinen losgemacht wurden, sah, wie das Schiff gehorsam dem mit Ruderern bemannten Bugsierboot folgte, das es frei schleppte, sah das Weiß der Segel in der Dunkelheit aufleuchten, als diese sich im Winde aufbauschten, riesigen Blüten gleich. Das Licht der Hecklaterne zitterte auf dem dunklen Wasser, schrumpfte mählich zu einem winzigen Tropfen Helligkeit und verschwand.
Tehanu faltete die Kleider zusammen, die Tehanu getragen hatte, das seidene Frauenhemd und den Oberrock. Sie hob die leichten Sandalen auf und drückte sie eine Weile an ihre Wange, ehe sie sie wegstellte.
Später lag sie wach in dem breiten Bett und sah immer wieder dieselbe Szene vor ihrem inneren Auge vorüberziehen: eine Straße und Tehanu, die allein auf ihr ging. Und einen Knoten, ein Netz, eine zuckende, schwarze, sich windende Masse, die vom Himmel herabfiel, Schwärme von Drachen, Feuer, das aus ihnen hervorschoss und nach Tehanu leckte und züngelte, ihr Haar und ihre Kleider in Brand setzte, bis sie lichterloh brannte ... Nein, sagte Tenar, nein! Es wird nicht geschehen! Sie zwang ihre Gedanken, sich von der Szene abzuwenden, versuchte verzweifelt, an etwas anderes zu denken, bis sie sie wieder vor sich sah: die Straße und Tehanu, die allein auf ihr ging, und den schwarzen, brennenden Knoten am Himmel, der immer näher kam.
Als das erste Licht des Morgens durch das Fenster drang, schlief sie endlich ein, tief erschöpft. Sie träumte, dass sie im Haus des Alten Magiers in Oberfell sei, in ihrem Haus, und sie war über alle Maßen froh, dort zu sein. Sie holte den Besen hinter der Tür hervor, um den glänzenden Eichenholzboden zu fegen, denn Ged hatte ihn verstauben lassen. Aber auf der Rückseite des Hauses war eine Tür, die es vorher nicht gegeben hatte. Als Tenar sie öffnete, fand sie ein kleines, niedriges Zimmer mit weiß getünchten Steinwänden. Ged war in dem Zimmer. Er hockte da mit den Armen auf den Knien; seine Hände hingen schlaff herunter. Sein Kopf war nicht der eines Menschen, sondern der eines Geiers, klein, schwarz und mit einem krummen Schnabel bewehrt. Er sagte mit leiser, heiserer Stimme: »Tenar, ich habe keine Schwingen.« Und als er das sagte, wallten eine solche Wut und ein solches Entsetzen in ihr auf, dass sie aus dem Schlaf hochschrak, schwer atmend und in Schweiß gebadet. An der hohen Wand ihres Palastgemaches spielte das Sonnenlicht, und die Trompeten kündigten mit ihrem süßen, klaren Schall die vierte Stunde des Morgens an.
Das Frühstück ward gebracht. Sie aß ein wenig und unterhielt sich mit Beere, der alten Dienstmagd, die sie sich aus der ganzen Schar von Zofen und Ehrendamen ausgewählt hatte, welche Lebannen ihr angeboten hatte. Beere war eine intelligente, tüchtige Frau, die in einem Dorf im Innern Havnors geboren war und mit der Tenar besser zurechtkam als mit dem größten Teil der Hofdamen. Sie waren zwar höflich und respektvoll, aber sie wussten nicht, wie sie sich ihr gegenüber verhalten, ja wie sie mit einer Frau sprechen sollten, die halb kargische Priesterin und halb Bauernweib von Gont war. Sie spürte, dass es einfacher für sie war, freundlich zu der grimmigfurchtsamen Tehanu zu sein. Sie konnten sie bedauern. Tenar indes konnten sie nicht bedauern.
Beere aber konnte es und tat es auch, und sie spendete Tenar an jenem Morgen beträchtlichen Trost. »Der König wird sie heil und wohlbehalten zurückbringen«, versicherte sie Tenar. »Oder glaubt Ihr etwa, er würde das Mädchen in eine Gefahr bringen, aus der er es nicht mehr herausholen könnte? Niemals! Nicht er!«
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