Der Fall Charles Dexter Ward
Ihnen spenden - er war nie ein Besessener oder gar Wahnsinniger, sondern nur ein eifriger, vorwitziger und lernbegieriger Junge, dessen Liebe zum Geheimnisvollen und Vergangenen sein Unglück war. Er stieß auf Dinge, die kein Sterblicher jemals wissen sollte, und er ging so weit in die Vergangenheit zurück, wie niemand es je wagen sollte; und irgend etwas kam aus diesen längst vergangenen Jahren, um ihn zu verderben.
Und jetzt komme ich zu der Angelegenheit, in der ich Sie bitten muß, mir mehr als in allen anderen Dingen zu vertrauen. Denn es wird in der Tat keine Ungewißheit über Charles' Schicksal geben. Wenn Sie es für richtig halten, können Sie etwa in einem Jahr eine geeignete Erklärung für sein Verschwinden verbreiten, denn Ihr Sohn wird nicht mehr unter den Lebenden weilen. Sie können ihm auf dem Nordfriedhof auf Ihrer Parzelle einen Grabstein errichten, genau zehn Fuß vom Grab Ihres Herrn Vaters entfernt und an demselben Weg; dort liegt die wirkliche Ruhestätte Ihres Sohnes. Sie brauchen auch keine Angst zu haben, daß dieser Stein irgendeiner Abnormität oder einem Wechselbalg gehören wird. Die Asche in diesem Grab wird die von Ihrem eigenen Fleisch und Blut sein - die Asche des wirklichen Charles Dexter Ward, dessen geistige Entwicklung Sie von seiner Kindheit an verfolgt haben - des wirklichen Charles mit dem olivgrünen Leberfleck auf der Hüfte und ohne das schwarze Hexenmal auf der Brust oder die Narbe auf der Stirn. Jenes Charles, der nie etwas wirklich Böses tat und für seine »Zimperlichkeit« mit dem Leben bezahlen mußte.
Das ist alles. Charles wird entkommen sein, und heute in einem Jahr können Sie den Grabstein aufstellen lassen. Fragen Sie mich morgen nicht. Und glauben Sie fest daran, daß die Ehre ihrer alten Familie von nun an unangetastet bleiben wird, so wie sie es zu allen Zeiten in der Vergangenheit gewesen ist.
Mit dem tiefsten Mitgefühl und der Ermahnung zu Tapferkeit, Ruhe und Resignation bin ich stets Ihr aufrichtiger Freund Marinus B. Willett So betrat dann am Freitag, dem 13. April 1928, Marinus Bicknell Willett das Zimmer von Charles Dexter Ward in Dr. Waites privater Heilanstalt auf der Insel Conanicut. Der junge Mann machte zwar keinen Versuch, sich dem Besucher zu entziehen, war aber recht mürrisch gelaunt und schien nicht geneigt, sich in das Gespräch einzulassen, das Willett offensichtlich mit ihm führen wollte. Daß der Doktor die Krypta entdeckt und darin so furchtbare Dinge erlebt hatte, war natürlich eine neue Quelle der Verlegenheit, so daß beide mit sichtlichem Unbehagen schwiegen, nachdem sie ein paar gezwungene Floskeln ausgetauscht hatten. Und dann schien ein neues Element der Zurückhaltung ins Spiel zu kommen, als Ward auf des Doktors maskenhaft unbewegtem Antlitz einen Ausdruck furchtbarer Entschlossenheit wahrzunehmen schien, den er nie zuvor bemerkt hatte. Der Patient verzagte, denn er wußte, daß sich seit dem letzten Besuch ein Wandel vollzogen hatte, der aus dem umgänglichen Hausarzt einen erbarmungslosen und unversöhnlichen Rächer gemacht hatte.
Ward wurde regelrecht bleich, und der Doktor sprach als erster. »Wir haben«, sagte er, »noch mehr herausgefunden, und ich muß Sie allen Ernstes warnen -es ist Zeit abzurechnen.«
»Wieder mal gegraben und noch mehr verhungernde Tierchen gefunden?« war die ironische Antwort. Offenbar war der junge Mann entschlossen, bis zum Schluß unnachgiebig zu bleiben.
»Nein«, entgegnete Willett bedächtig, »diesmal brauchte ich nicht zu graben. Wir haben Leute auf Dr. Allens Spur gesetzt, und sie haben im Bungalow den falschen Bart und die Brille gefunden.«
»Ausgezeichnet!« rief der beunruhigte Gastgeber mit verletzendem Spott aus, »sicher waren sie kleidsamer als der Bart und die Brille, die Sie tragen!«
»Ihnen hätte sie besser zu Gesicht gestanden«, kam ruhig und unbeirrbar die Antwort, »was ja wohl tatsächlich auch der Fall war.« Als Willett dies sagte, schien es fast, als sei die Sonne plötzlich hinter einer Wolke verschwunden; doch die Schatten auf dem Fußboden hatten sich nicht verändert. Ward riskierte viel:
»Das also verlangt so dringend nach einer Abrechnung? Und darf man es nicht für nützlich halten, ab und zu ein zweites Ich zu haben?«
»Nein«, sagte Willett mit Nachdruck, »Sie haben schon wieder unrecht. Es geht mich nichts an, wenn einer zwei Gesichter haben möchte; vorausgesetzt, er hat überhaupt ein Recht, am Leben zu sein, und vorausgesetzt, er
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