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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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tröpfelt, perlt, fließt und braust die ganze Geschichte aus ihm heraus.
    «Ich musste doch … Sie wissen ja nicht, wie das ist … Haben Sie einen Bruder? Ich schon … Zwei Jahre älter als ich … Die Eltern – der Vater hat ihn ins Heim gegeben, gleich nach seiner Geburt … Down-Syndrom … Mongolismus, wenn Sie so wollen … Keine Zierde für die Söhnlein-Dynastie, hat es geheißen, kein Nachfolger, um das Hotel zu leiten … Es ist an mir hängen geblieben, verstehen Sie? Die Ehre der Familie, der Betrieb: meine Verantwortung! Das können Sie gar nicht verstehen … ‹Erbe des Kaiser-Throns›, so hat mich der Vater schon im Kindergarten genannt … Der Vater … Ich hasse ihn. Mein Gott, wie ich ihn hasse … Ich habe ihm nie genügt … Aber den Bruder hat er … Er ist jeden Sonntag nach dem Essen aus dem Haus gegangen, der Vater. Wichtiger Termin, hat es geheißen. Einmal bin ich ihm gefolgt, im Geheimen … Und dann habe ich die beiden im Park gesehen, ihn und meinen Bruder. Sie haben sich umarmt … Den Bruder hat er geliebt, den schwachsinnigen.
    Ich weiß nicht, warum. Ich weiß es bis heute nicht …» Albert Söhnlein starrt auf den Boden.
    «Trotzdem … Er hat mich Disziplin gelehrt … Und dann die Schule … der Doktor Grinzinger. Er war nicht nur streng und gefürchtet, er war ein wirklich … großer Mann. Wir haben uns mehr als respektiert, er und ich … Sein Blick, wenn er die Zensuren verteilt hat … ‹Söhnlein: eins› … Er hat mich manchmal angelächelt dabei. Und ich habe zurückgenickt … Da war so eine Anerkennung, so ein stummes Einverständnis …
    Die anderen aus der Klasse waren Abschaum, das muss auch einmal gesagt sein. Die haben so einen Lehrer gar nicht verdient. Statt ordentlich zu lernen, haben sie hinterrücks auf ihn geschimpft, und auch auf mich, wahrscheinlich. Aber das war mir egal. Völlig egal. Wer im Leben weiterkommen will, der achtet auf seinen Umgang … Ich hatte schon Umgang mit den anderen, natürlich, aber nur, um nicht aufzufallen, nur, damit sie glauben, ich bin einer von ihnen, verstehen Sie? So wusste ich immer, was sie planen … Das war doch klug von mir, nicht?»
    Söhnlein grinst den Lemming listig an.
    «Und dann kam der Neumann, der Sitzenbleiber, und hat geglaubt, er ist was Besseres. Vom ersten Tag an hat er versucht, die Autorität vom Doktor Grinzinger zu untergraben, der respektlose … Judenbengel. Der Neumann und sein Vater mit ihrem schmierigen Lokal, das war die Subversion in Reinkultur, das war eine Schande. Aber der Doktor Grinzinger hat schon gewusst, wie man mit Ungeziefer verfährt: ‹Manche Leute sollten besser dahin gehen, wo sie hingehören. In den Hades, meinetwegen …› Das hat er nicht nur so dahingesagt. Das war ein klarer Auftrag, und ich habe ihn verstanden. Als Einziger habe ich ihn verstanden. Und als Einziger habe ich den Mumm gehabt, zu tun, was getan werden musste!»
    «Sie haben also den richtigen Zeitpunkt abgewartet», murmelt der Lemming. «Eines Nachmittags hat Max Breitner Ihnen und Ihren Klassenkollegen im Park erzählt, dass dicke Luft im Kaffee Neumann herrscht. Sie sind hingegangen und haben gesehen, wie Grinzinger das Lokal verlässt. Und wie David dem Lehrer hinterherläuft. Freie Bahn für Sie. Keine Zeugen. Der alte Neumann war sowieso schon angeschlagen. Da sind Sie hinein und haben ihm den Rest gegeben …»
    «Es ging doch aber ganz schnell. Ich habe ihn nicht leiden lassen, das können Sie mir glauben … Einen Sitzpolster aufs Gesicht; nach zwei, drei Minuten war alles vorbei …»
    «Aber … wieso die Brille? Warum haben Sie ihm die Brille abgenommen?»
    «Ich dachte … ich brauche einen Beweis. Für den Doktor Grinzinger … Damit er sicher weiß, dass er … also, dass er auf mich zählen kann. Das war … wie die Besiegelung unseres Paktes, verstehen Sie? Nach den Sommerferien bin ich zu ihm gegangen, in der großen Pause. Ich hab es kaum erwarten können … ‹Herr Doktor›, habe ich gesagt, ‹amicus certus in re incerta cernitur› – den sicheren Freund erkennt man in unsicherer Lage. Dann habe ich ihm die Brille gegeben.»
    «Und er?»
    «Er war bestürzt. Es muss ihn überwältigt haben, dass ich ihm ein so treuer Verbündeter bin. Er hat mich lange angeschaut. Dann hat er die Brille genommen und sie eingesteckt. ‹Geh jetzt zurück in die Klasse, Söhnlein›, hat er gemurmelt. Nur das. ‹Geh jetzt zurück in die Klasse› … Er war

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